Vor dem Gesetz
Kulturkampf in Sankt Petersburg. Die Manifesta macht Station an der Newa.
Die Welt, 28. Juni 2014
Eine endlose Menschenreihe hat vor dem Winterpalast in Sankt Petersburg Aufstellung genommen, wie in einer Militärparade oder als könnte im nächsten Moment der Sturm auf den Palast losbrechen wie 1917 (Revolutionen fanden schließlich seit der Erstürmung des Louvre immer auch in Museen statt). Verschieden große Holzschemel bringen die Scheitel der Stehenden auf gleiche Höhe.
In ihrer Videoinstallation "Egalité" auf der heute in Sankt Petersburg eröffnenden Wanderbiennale Manifesta führt die Performancekünstlerin Elena Kovylina das Gleichheitsversprechen von Revolutionen per Prothese ad absurdum. Dramatische Kamerafahrten entlang der Stehenden, Schwenks aus dem Helikopter über den Platz, und die Boxen schmettern Tschaikowskis Ouvertüre "1812", mit der jedes russische Orchester gern am Ende des Abends den historischen Sieg über Napoleon feiert.
Mit komischem Pathos bricht Kovylina politische Konfrontationen auf eine formale Anordnung herunter und hebt damit zugleich den derzeit aufwallenden Nationalstolz aus den Angeln wie den kompromisslosen Ernst in den Aufrufen von Künstlerkollegen, eine Manifesta in Russland sei spätestens nach der Krim-Annexion aus politischen Gründen zu boykottieren.
Spannend an der 42-jährigen Kovylina ist, dass sie, wahrscheinlich als Einzige unter den rund 50 teilnehmenden Künstlerkollegen, in Sachen Ukraine voll hinter Putin steht. "Ich finde Putin gut, so wie 83 Prozent von unserer Bevölkerung", erklärt sie, die in Zürich studierte.
Für Gerhard Richter, Joseph Beuys, Rineke Dijkstra und all die anderen Weggefährten, die der verehrte Kölner Kurator Kasper König hier in das renovierte Generalstabsgebäude gegenüber dem Winterpalast gebracht hat, hat Kovylina neulich den Ausdruck "Nato-Künstler" geprägt, und an ihrem leichten Schmunzeln ist zu merken, dass sie die Provokation genießt, die auch die Weltbilder ihrer Nato-Gesprächspartner durcheinanderbringt. Politik sei letztlich ohnehin nur noch Theater für die Massen, erklärt sie zum Abschluss, und Putin, der den Tiger erlegt und mit den Kranichen fliegt, auch ein extrem guter Performancekünstler.
"Vor dem Gesetz" hieß die vorletzte Ausstellung Kasper Königs als Direktor des Museums Ludwig 2011. Doch vor einer ganzen Reihe seltsamer Gesetze fand sich der nun 70-jährige bald wieder, als er zusagte, die zehnte Ausgabe der Manifesta in der Eremitage zu kuratieren. "Auf meinem Vertrag war die Tinte noch nicht trocken", erzählt König nach der Pressekonferenz an der Sektbar, da habe Putin gerade das Gesetz gegen die öffentliche Zurschaustellung homosexuellen Verhaltens unterschrieben. Damals waren es gerade schwule Künstler wie Henrik Olesen, die Kollegen wie Wolfgang Tillmans überzeugten, dennoch mitzumachen. Doch niemand hätte sich wohl damals ausmalen können, wie der kontinentale Drift zwischen Russland und dem Westen sich in kürzester Zeit auswachsen würde. "Die Mauer ist zurück", erklärte König in der Pressekonferenz, "und wie."
In ihrer 20-jährigen Geschichte hat die Manifesta manche Grenzgänge überlebt. So scheiterte die sechste Ausgabe 2006 am Vorhaben der Kuratoren, Ausstellungen auf beiden Hälften Zyperns auszurichten. Die Entscheidung, zum 250. Geburtstag der Eremitage an die bestehende Museumsstruktur anzudocken, schien auch eine auf Nummer sicher zu sein.
Bis sich das Land plötzlich rasant zu verändern begann. Seit der Kreml sich im Herbst 2011 Zehntausenden jungen Moskauer Demonstranten gegenübersah und Pussy Riot mit ihrer Performance in der wiedererrichteten Christus-Erlöser-Kathedrale das neue, von wenigen Konzernen und orthodoxer Kirche getragene restaurative Selbstbild Russlands mitten ins Auge traf, verabschiedet die Duma in immer schnellerem Takt restriktive Gesetze, wie zuletzt das gegen den Gebrauch von Schimpfworten. Daher auch die für eine Eröffnungsrede bemerkenswerte Erklärung von Eremitage-Direktor Michail Piotrowski, alle Installationen stimmten mit russischen Gesetzen überein. "Ich wollte damit Skepsis von beiden Seiten zuvorkommen", erklärt er im Anschluss – "von Konservativen, aber auch den ständigen Fragen nach Zensur."
Tatsächlich finden sich in der Ausstellung nicht nur sich aneinanderschmiegende Männer und nackte Jünglinge in zwei so konzisen wie sinnlichen Räumen Wolfgang Tillmans', sondern auch eine Reihe Gemälde berühmter schwuler Männer von der südafrikanischen Künstlerin Marlene Dumas, darunter Pjotr Iljitsch Tschaikowski. Und der Ukrainer Boris Mikhailov bietet die fotografische Innenansicht aus den ersten Wochen der Maidan-Besetzung und erfindet dabei in übermalten Prints und pragmatischen MDF-Vitrinen mal wieder das Historienbild neu.
"Sankt Petersburg war immer ein Ort des Kulturkampfs", ruft Direktor Piotrowski die liberale Tradition der vom Schweizer Architekten Domenico Trezzini erbauten Stadt auf. Peter der Große habe noch die Venus Tauride im Sommergarten ausgestellt und seine Untertanen einberufen, sie zu betrachten – "eine nackte, heidnische Göttin!" Derart der Gegenwartskunst verfallen, würde sich wohl auch Piotrowski seine Gesprächspartner in der Politik wünschen.
Piotrowski ist der Mann, der kürzlich als Einziger eine Solidaritätserklärung russischer Kulturvertreter gegenüber Putin nicht unterzeichnete. Und der es Putin verbat, Rembrandts aus Sankt Petersburg nach Moskau ins neu errichtete Puschkin-Museum zu holen. "Er kennt die Gesetze", erklärt Piotrowski. "Das war reine Provokation." Man kann den Eindruck gewinnen, Putin sei so was wie ein Klassenclown und Piotrowski ein strenger, aber verständnisvoller Schuldirektor, der ihn, wenn nötig, in die Schranken weist.
Piotrowski war es nicht nur, der die Stadtverwaltung überzeugte, die Manifesta in Sankt Petersburg zu finanzieren, sondern sich auch König als Kurator wünschte. Mit dem Ergebnis, dass die Manifesta nun endgültig ihre Funktion verändert hat. Gegründet wurde sie einst mit EU-Geldern und dem Ziel, junge Kunst in abgelegenen Regionen zu fördern. Schon die letzte Ausgabe in einer stillgelegten Kohlenmine in Flandern bewegte sich aber in Richtung arrivierter Nachkriegspositionen. König lieferte nun, was von ihm zu erwarten war – konzise, mal existenzialistische, mal fein komische Passagen aus starken, aber weithin abgesicherten Positionen, nicht ohne Sendungsbewusstsein und die unvermeidlichen Projektionen.
So stürzte sich Erik van Lieshout für eine unverbindliche Tunnelinstallation wie vor ihm schon die Wiener Künstlerin Anna Jermolaewa auf die legendären Katzen, die die Eremitage seit ihrer Gründung vor Mäusen schützen. Und Francis Alÿs verwirklichte seinen Jugendtraum, mit dem Lada nach Sankt Petersburg zu fahren. Ein lustiges Video zeigt, wie er ihn im Hof der Eremitage mit Vollgas gegen einen Baum setzen lässt. Im dort belassenen Wrack testen derweil Jugendliche johlend Scheibenwischer und Hupe.
Ansonsten ist es ja nicht so, dass in Russland viele auf Gegenwartskunst warten würden, das gesteht auch Piotrowski. Ein zwischen zwei flämischen Altären eher verblassender Richter wird daran nicht viel ändern. Gerade angesichts der zunehmenden Spaltung auch der russischen Kunstszene hätte es vielleicht mehr bewirkt, so wie 2010 in Murcia die Deutungshoheit unter verschiedenen Kuratoren zu streuen und kontrovers über die Rolle von zeitgenössischer Kunst in restaurativen Gesellschaften zu streiten.
Das könnte immerhin im von der polnischen Kuratorin Joanna Warsza kuratierten "Public Program" geschehen, das in verschiedenen geschichtsträchtigen Orten innerhalb und außerhalb der Stadt stattfindet – auch in Privatwohnungen, denn "die Zivilgesellschaft", so Warsza, "bildete sich hier schon zu Sowjetzeiten in der Küche".
Piotrowski jedenfalls hat mit 700 angereisten Journalisten den internationalen Aufmerksamkeitsgewinn, den er sich für den Start seines Gegenwartskunst-Programms wünschte. Und die Manifesta ist zu einem mobilen Standortmarketing-Instrument geworden, um dessen künftige Austragungsorte schon weitere Städte streiten. "Ist es nicht vielleicht sogar radikaler, in eine alte Institution zu gehen?", begegnet Hedwig Fijen, Manifesta-Direktorin seit der Gründung, dieser Kritik. Nein. Das Konzept, dass eine Biennale ihre Geschichte in immer neuen Kontexten fortschreibt, bleibt interessant. Doch wenn sie in zwei Jahren ausgerechnet ins an Kunst nicht arme Zürich geht, um das Dada-Erbe zu befragen, dann hat sie endgültig vor einer allgemeinen Entwicklung kapituliert: Kunstunternehmungen dieser Größe können sich nicht mehr allein aus Inhalten entwickeln. Sie müssen dahin gehen, wo Geld und Aufmerksamkeit schon warten, mit großen Namen im Gepäck.