Steine schauen mich an

Rückbau der Ordnungen: Ein Treffen mit Jimmie Durham zwischen Documenta und Biennale

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. April 2013

Oft fühlt man sich ja zwischen Kunstwerken gar nicht eingeladen. Eher wie auf einer Doktorandenparty, auf der alle in Selbstgespräche vertieft sind, in Sprachen, die man nicht versteht. Oder wie im Wartezimmer eines Vorgesetzten, der gerade mit Wichtigerem beschäftigt ist. Selten ist es so, dass man sich in einer Ausstellung umso willkommener fühlt, je länger man sich in ihr aufhält. Dass man den Eindruck gewinnt, sich den Raum mit einigen extrem witzigen Leuten zu teilen.

In Jimmie Durhams Retrospektive, die im vergangenen Jahr im Museum van Hedendaagse Kunst Antwerpen (M HKA) gezeigt wurde, war das der Fall. Je weiter man seinen Parcours der disparaten Dinge abschritt, die Tierschädel mit Gasleitungsgeweihen, die aus PVC-Rohren linsenden Gesichter oder den faltbaren „Triumphbogen zum persönlichen Gebrauch“, desto leichter wurde es einem, und es schien nach einiger Zeit sogar, als würden die Objekte sich bewegen. Als tuschelten sie hinter dem Rücken des Gastes, schnitten ihm Gesichter, ließen genüsslich die Knochen knacken und setzten sich erst wieder ruckartig in ihre etwas missglückten Posen, sobald man sich zu ihnen umdreht.

In den zweiundsiebzig Jahresringen Jimmie Durhams zieht ein Lächeln auf, und er lehnt sich hinter seinem Berliner Esstisch zurück. „Das ist eine schöne Beschreibung.“

Wenn man jetzt aber mit ihm besprechen will, warum das so ist, wie das funktioniert, seine auf allen Ebenen durchgespielten Akte des Zeigens, das Gegenseitig-ins-Wort-Fallen der zahllosen Stimmen von Steinen, Hölzern, Masken und handgeschriebenen Texten, das allen Pathos und jede Sentimentalität sabotiert, diese Dekonstruktion hierarchischer Ordnungsmuster, dann wirkt Jimmie Durham plötzlich sehr gelangweilt.

Kunst sei eh eine dumme Erfindung, wird er später am Abend sagen, und noch einmal, Kopfschütteln: „So eine dumme Erfindung“.

Dabei erklärt Durham, der nach der Retrospektive, Galerieausstellungen in Wien und Berlin und seinem Documenta-Auftritt gerade einen neuen Gedichtband veröffentlicht hat, nicht nur seine Kunst in verschiedenen Essays, seine Kunst erklärt sich auch fortwährend selbst: „Ich fand dieses Glas auf der alten Via Appia in Rom“, steht in Antwerpen in wackliger Filzschrift neben Scherben, die auf eine Leinwand geklebt sind, und: „Dies ist Acrylfarbe, aufgebracht auf Leintuch, das auf Sperrholz aus Finnland gespannt wurde.“ Wer spricht? Aus einem Gewölle von geknüllter Leinwand, Haaren und Dreck ragt ein Schildchen: „Mr. Durham machte mich nicht ohne ununterbrochen an seine Kunstkarriere zu denken, sowie, es tut mir leid das sagen zu müssen, an die Empfindlichkeiten des allgemeinen Kunstpublikums.“

Diese Technik der Selbstkommentierung durchzieht Durhams ganzes Schaffen mit Ironie und erzeugt eine fortlaufende Dezentrierung von Sprech-, Zeige- und Blickpositionen. Es gibt sogenannte „Selbstporträts“ von Durham, Fotos, auf denen er als jemand anderes verkleidet ist, der als jemand anderes verkleidet ist – nicht täuschend echt wie bei Cindy Sherman, sondern die Mittel offen legend wie Bertolt Brecht. „Ich bin nicht an mir selbst interessiert“, sagt Durham. „Wenn Du am Arbeiten bist, bist Du ohne Selbst.“

Nur ein Werk lässt er als Selbstporträt gelten: ein starrer Hampelmann mit seinen Maßen, einer Maske und sehr viel Text, zum Beispiel: „Hallo! Ich bin Jimmie Durham. Ich möchte ein paar Dinge über mich erklären.“ Neben Geschlechtsteilen aus bemaltem Holz ist zu lernen: „Indianerpenisse sind ungewöhlich groß und farbenfroh.“

„Self-Portrait“ entstand 1987, als man Durham in New York noch als indianische Identitätskunst aussortierte, obwohl seine Dekonstruktionen sehr viel weiter gingen als das meiste, was sich als postmodern feierte.

Ich möchte ein paar Dinge über Jimmie Durham erklären: 1940 in Arkansas geboren, wuchs er als Cherokee in einer Cherokee-Siedlung auf. Um dem Leben als Viehhüter zu entkommen, ging er zum Militär und war während des Vietnamkriegs in Asien stationiert (mehr verrät er nicht). Er arbeitete als Mechaniker in Austin, Texas und fertigte in seiner Freizeit Objekte, die Besucher aus Genf als Kunst identifizierten. Darauf studierte Durham Kunst in Genf, knüpfte Kontakt zu Menschenrechtlern und führte fünfzehn Jahre lang bei den Vereinten Nationen in New York einen fast ergebnislosen Kampf als Sprecher für die Rechte indigener Völker. Seit 1995 hat er keinen Fuß auf US-Boden gesetzt. „Ich wüsste nicht, was ich dort sollte.“

Passend zur Poetik der Abschweifung, die Durhams Skulpturen und Texte betreiben, wechselt auch der aufmerksame, höfliche Herr während des Erzählens gern mal den Bezugsrahmen. „Das ist mir noch nie aufgefallen“, sagt er und fährt einen schlangenförmigen Riss in der Tischplatte nach. „Wo waren wir stehen geblieben?“

1994 zog Durham mit seiner Partnerin, der Künstlerin Maria Tereza Alves, nach Europa, wo er früh von belgischen Sammlern geschätzt wurde – ein Umstand, auf den das M HKA mit seiner Retrospektive aufbaut. Sie belegt die universale Tragweite dieses Werks, das am Ende als eines der Bedeutendsten dieser Jahrzehnte bleiben wird. Zu den letzten Ankäufen des geschiedenen Museum-Ludwig-Kurators Kasper König gehört eine Rauminstallation Durhams, die den indianerfeindlichen Diskurs, auf den die USA gegründet sind, in Architektur übersetzt.

Wie kommt es, dass dieser Künstler erst so spät breitere Aufmerksamkeit erfährt? Liegt es am steigenden Interesse an neuen Perspektiven auf die Kolonisationsbewegungen in postkolonialer Theorie? Oder am aktuellen Reiz einer Auffassung von Moderne, die deren Entgegensetzung von Mensch und Dingen als historisch, also nicht zwingend versteht, wie in den Büchern Bruno Latours, den Animismus-Ausstellungen von Kurator Anselm Franke und der diesjährigen Documenta?

Sein Documenta-Beitrag zeigte exemplarisch, wie Durham arbeitet: In einer in einem Gewächshaus platzierten Vitrine, beide moderne Topoi der Einfriedung des Exotischen, lag ein prähistorischer Steinkeil neben einer verätzten Gewehrkugel aus dem Zweiten Weltkrieg. Eine Texttafel gab vor, „Die Geschichte Europas“ zu erklären und hebelte beiläufig ein paar eurozentristische Voraussetzungen aus, inklusive der Vorstellung, Europa sei ein Kontinent. „In den vergangenen paar tausend Jahren haben die Europäer viele Abenteuer erlebt“, schloss sie mit raffiniertem Spott und untergrub die ganze humanistische Erzählung einer vom Dunkel ins Licht schreitenden Zivilisation. Als blickte ein unbeteiligter Ethnograph aus der Zukunft zurück, mit allen Übersetzungsfehlern, die mit wissenschaftlichen Einordnungen einhergehen. Durham travestiert solche Praktiken der Indexierung und Klassifizierung und schafft damit Umkehrungen des ethnographischen Blicks.

Wie die Darsteller in Brechts dialektischem Theater, das Durham in den Sechzigern als Schauspieler für sich entdeckte, stehen seine Texte und Objekte gewissermaßen neben sich: Sie zeigen nicht nur, sie zeigen auch ihr Zeigen und erzeugen damit ständig Spalte zwischen Erwartung und Erfüllung, in denen die Erwartungen selbst bewusst werden – und mit ihnen die Dispositive und Ideologien, die mit ihnen verbunden sind. So entstehen sachte Lockerungen in der Ordnung der Dinge, lokale Akte der Dekolonisation.

In Antwerpen war neben anderen Performance-Aufzeichnungen das Video „Smashing“ zu sehen: Der Künstler sitzt im Anzug in einem „Büro für das Zertrümmern von Dingen“. Leute legen ihm Gegenstände auf den Schreibtisch. Durham schlägt sie mit einem Steinkeil in Stücke. Anschließend nimmt er Stempel und Füller zur Hand, erstellt „Irgendein Zertifikat“ und händigt es dem Einreicher des Gegenstandes aus.

Das „Büro für das Zertrümmern von Dingen“ erinnert in seinem absurden Witz an Monthy Pythons „Ministry of Silly Walks“; und in seinem sachlichen Ernst an das „Büro für Indianerangelegenheiten“ der US-Regierung, das die gewaltsamen Landnahmen europäischer Siedler juristisch absicherte. Durham zeigt Macht als Theater – wie auch die Ordnungen in Wissenschaft, Sprache und Architektur, die da sind, sie zu stützen. „Writing and architecture“, schreibt er in seinem neuen Gedichtband, „Replaced memory with law and the sepulcher, / Placed us all against the wall.“ („Schrift und Architektur […] ersetzten Erinnerung durch das Gesetz und das Grab / Stellten uns alle gegen die Wand“).

Das Gedicht hinterfragt die „Zwickmühle“ (predicament), in die „wir“ gerieten, und hinterfragt auch gleich die Frage: „What predicament? Who are 'we'? / Any appropriate shore bird can say, / 'Hu-ar-wee-Hu-ar-wee.'“ („Welche Zwickmühle? Wer sind ‚wir‘? / Jeder beliebige Küstenvogel kann sagen, / ‚Hu-ar-wee-Hu-ar-wee.’“). Das wiederkehrende Krähen vermisst nicht nur die Grenze zwischen Sprache und Naturlaut, sondern durchweht wie ein Menetekel den Gesang auf die unhintergehbaren Zwänge jeder Zivilisation. Dabei unterlaufen Durhams Texte Ernst und Pathos in kreisenden Abschweifungen und Rückbindungen an persönliches Erleben. Das Buch schließt überraschend mit einem feierlichen Aufruf zur Beschneidung: „Nun hört, all ihr jungen Männer: / Habt Ihr eine Vorhaut, lasst sie wegschneiden. / Alles ist besser ohne sie.“ Der vielleicht entspannteste Beitrag zur deutschen Beschneidungsdebatte.

„Poems That Do Not Go Together“, Gedichte, die nicht zusammen passen, heißt der in Wiens Verlag erschienene zweite Band mit Gedichten Durhams (der erste erschien 1983 in den USA). Im Umgehen von Reim und Versmaß sabotieren sie narzisstische Selbstfeiern der Sprache. In Brüchen, Verwindungen und Falschschreibungen trennen sie deren Strukturen am Saum entlang auf, so wie Durhams Skulpturen die Grammatiken des Materials.

In Durhams Stein-Performances gehen auch größere Dinge zu Bruch, Autos etwa oder Flugzeuge. Oft senken sich die Steine an Kränen in das Blech, und meist lächeln sie dabei freundlich aus aufgemalten Gesichtern. Die Materie, das schlechthin Andere, zu Formende, erhält Handlungsmacht und blickt zurück. So wie das Steingesicht, das von einer Säule des M HKA aus Eintretende auf Augenhöhe kritisch inspiziert.

Durhams Anordnungen von Dingen wie Worten schreiben sich nicht über den Kopf des Gastes hinweg in eine übergeordnete Wirklichkeit der Kunst ein. Sie richten sich direkt an den Betrachter, sie fangen mich bei der eigenen Blicktätigkeit. Und stellen damit den ganzen Rahmen infrage, in dem wir aufeinander treffen.

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