Staffellauf in den Kunst-Werken

Mit der Ausstellungsreihe „KW 69“ holen sich die Berliner Kunst-Werke den Independent-Geist zurück ins Haus.

Der Tagesspiegel, 14. November 2010

Was ist nicht alles an Vorbereitung nötig, bis Kunst ihr Publikum erreicht: Programmplanung, Pressearbeit, Licht, Transport und Sicherheit. Und dann haften alle mit ihren Namen – Künstler, Kurator und Ausstellungshaus. Wie schnell stand dagegen die Schau „Molecular Etwas“ im Vorderhaus der Kunst-Werke. Einige Telefonate, Mails und Treffen, keine Pressevorbesichtigung. Dennoch drängten sich zur Eröffnung über 300 Gäste in den zwei Zimmern mit Diele und auf der Treppe.

Gut, auch hier sind die Werke versichert, und die Schau ist kuratorisch konsistent. Trotzdem holen sich die Kunst-Werke mit der neuen Reihe „KW 69“ ein Stück des Independent-Geists ins Haus, wie er aus den zahllosen Projekträumen dieser Stadt quillt und aus dem sie einst selbst zum internationalen Szenedrehkreuz wuchs. Direktorin Gabriele Horn will den Künstlern etwas zurückgeben. Es ist ein guter Deal für beide Seiten.

„KW 69“ folgt dem Prinzip des Staffellaufs: Eine Künstlerin wählt einen Künstler, den sie ausstellen möchte und setzt seine Arbeiten in Bezug zu Arbeiten anderer Künstler. Für die nächste Folge wählt dieser Künstler einen neuen Künstler, und so weiter. Eine Kettenreaktion mit offenem Ausgang, die verspricht, Routinen der Ausstellungsproduktion zu lockern.

Für die erste Zündung sorgt Angela Bulloch. Eine passende Wahl, problematisiert sie mit ihren Installationen doch selbst Ordnungsprinzipien. Ähnlich der von ihr gewählte Jean-Michel Wicker, 1970 geboren. Wicker hat sich durch das Anlegen eines japanischen Gartens und Verlagsgründungen mit Ordnungen und Wucherungen auseinandergesetzt, dysfunktionale Comicalben publiziert oder auch Plastikkugeln produziert. Gerade arbeitet er an einem „unmöglichen Buch“.

Wickers Arbeiten für „Molecular Etwas“ stammen alle aus den vergangenen vier Monaten. „Es geht um Räumlichkeit und Maßstäbe“, sagt der Künstler, „uns hat die Idee eines Planetariums gereizt.“ Beleuchtung gibt es nicht, die Himmelskörper bescheinen sich hier ausschließlich gegenseitig: Eine Neonröhrensäule von Cerith Wyn Evans im Vorderraum stellt die Sonne dar und strahlt auf Wickers Scheiben aus Karton und Pappmaché, die wie Monde an der Wand hängen. Die größte befindet sich als schwebender Paravent im Raum und stellt das älteste, teuerste Werk in den Schatten wie in einer Sonnenfinsternis. Man muss sich dahinter zwängen, um die Buntstift-Zeichnung des Surrealisten Roberto Matta betrachten zu können, den Vater Gordon Matta-Clarks. Sie stammt aus dem Erbe von André Breton, Wicker hat sie von seinem Pariser Sammler geliehen.

Auf der Rückseite der Pappscheibe offenbart sich in Edding-Spuren die günstige Herkunft von einem Umzugskarton. Eine kleine Phiole ist angeklebt, mit Parfum, das Modeschöpfer Pierre Balmain 1946 bei Germaine Cellier bestellte, um seine Visitenkarten zu veredeln. Ein Klecks davon ist auf der Vorderseite angebracht, neben einem Dripping in Yves Kleins’ Ultramarinblau. Die Funken schlagen hier in viele Richtungen, nach Fontana, Deleuze und Pop-Hedonismus. Maßstäbe und Hierarchien beginnen zu schweben. Ein Kraftzentrum bilden die sechs Styroporbecher, die Christina Mackie 1996 verschieden starkem Luftdruck aussetzte. Zerbeult stehen sie nach Größe sortiert in einem Glaskasten. Der tieffrequente Puls, den Bruce Gilbert dazu komponierte, dringt aus dem Bad und lässt die Dielendecke scheppern.

Im Hinterzimmer findet Evans Neonlicht ein Echo in den blendenden Traumata der Moderne. Hier kommt das Licht von Dominique Gonzales-Foersters Acht-Millimeter-Aufnahmen aus einem Erholungspark in einem früheren Atomtestgebiet in der mexikanischen Wüste. An der Wand entfaltet sich eins von Wickers Büchern in vielen Fäden um Türrahmen und Zimmerecken. Wicker packt den Betrachter beim Körpergefühl und entspinnt auf engstem Raum erstaunliche gedankliche Umlaufbahnen.

Dass Künstler die besseren Kuratoren sein können, zeigte schon Maurizio Cattelans 4. Berlin Biennale; das legten zuletzt Ausstellungen von Tilo Schulz und John Bock in der Temporären Kunsthalle nahe. Am endgültigen Beweis arbeitet ein Stockwerk höher gerade Artur Zmijewski, der die nächste Berlin Biennale leitet. Mit „KW 69“ rücken auch die Kunst-Werke das Format Ausstellung näher an die künstlerische Produktion.

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