Schamanen im Stahlkessel

Ist es Zeitverschwendung? Die Melvins in der Volksbühne

Der Tagesspiegel, 18. Oktober 2011

Ist es Zeitverschwendung, zu einem Melvins-Konzert zu gehen? Es gälte Texte fertig zu machen, Verwandte anzurufen, fundierte Haltungen zum Bestehenden zu entwickeln. Während diese Band, bei der Kurt Cobain einst beim Gitarrenvorspiel durchfiel, seit über fünfundzwanzig Jahren prinzipiell das gleiche macht. Abgesehen von der Hardware-Erweiterung, die sie vor fünf Jahren vorgenommen hat.

Ist es Schlagzeugerverschwendung, zwei Drummer nebeneinander zu setzen, die noch dazu weitgehend das selbe spielen? Dale Crover und Coady Willis geben, in Ritterlaibchen gekleidet, mal präzise drauf los knüppelnd, mal synchron mit den Stöckchen klappernd, eine herrlich angeschwulte Zwittererscheinung.

Ist es Zeilenverschwendung, über ein Melvins-Konzert zu schreiben? Die Band gibt ja, so weit bekannt, keine schlechten Konzerte. Ist es Geräuschverschwendung, wenn sich der vielköpfig verknotete Noiserock im Großen Saal der Volksbühne verscheppert wie in einem Stahlkessel? Ist es Shampoo-Verschwendung, dass Buzz Osborne mit der aufregenden Rockröhre und dem sämigen Gitarrensound noch immer seine voluminöse Tentakel-Frisur durch die Gegend wippt? Ist es Stromverschwendung, wenn die Scheinwerferbatterien hinter der Band immer wieder auf Blendstärke hochgefahren werden?

Ist es Zeitverschwendung? Spätestens dann nicht mehr, als Bassist Jarred Warren einen Notenständer ohne Noten hereingetragen bekommt, sich in unverständliche Schamanengesänge steigert und schließlich mit wedelnden Händen und aufgerissenen Augen rückwärts tapsend verschwindet.

Was sind die Melvins? Ein Gag, der einfach nicht schlechter wird, je öfter man ihn erzählt? Vor allem: Energie, die länger hält als alle, die von ihr zehrten, weil sie sich erfolgreich der Gerinnung widersetzt.

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