Hinaus, hinaus! Die katastrophische Rede und der Wunsch zu verschwinden

Essay im Katalog für das Ausstellungsprojekt "dis­tUR­BAN­ces – Can Fic­tion Beat Rea­li­ty?" im Rahmen des Eu­ro­pean Monats für Fotografie 2012

distURBANces – Can Fiction Beat Reality? (European Month of Photography), 18. Oktober 2013

Am 13. April des Jahres 2029, naturgemäß einem Freitag, wird der Asteroid Apophis, benannt nach dem ägyptischen Gott der Auflösung, der Erde gefährlich nahe kommen. Der Asteroid ist etwa zweihundertsiebzig Meter groß und dreißig Kilometer pro Sekunde schnell. Bei seinem Auftreffen würde eine Sprengkraft freigesetzt, die einem Erdbeben der Stärke 8,0 entspricht. Im Falle eines Einschlags auf dem Land entstünde ein riesiger Krater, das aufgeworfene Material würde wie bei einem Vulkanausbruch auf die Umgebung niederregnen und wochenlang die Sonne verdunkeln. Im Falle eines Einschlags auf dem Wasser ist dagegen mit Tsunamis zu rechnen, deren Wellen bis zu hundert Meter Höhe erreichen können und auch an den Küsten noch etwa dreißig Meter hoch sind.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. April 2012[1]

Wir werden alle sterben. Die Welt, wie wir sie kennen, wird verschwinden. Wir wollen es ja so. Wie Kirsten Dunst in Lars von Triers Epochenbild Melancholia ersehnen wir den Einschlag, und wie ihr Gegenbild Charlotte Gainsbourg klammern wir uns nervös an unsere aus Drähten zusammengebastelten Prognosevorrichtungen, die wir zitternd in den Himmel richten, um noch eine letzte Illusion von Kontrolle aufrecht zu erhalten. Aber die Apokalypse wird kommen, so oder so.

Wir werden dann allerdings schon gar nicht mehr da sein. Denn „das Subjekt als Instanz des Willens, der Freiheit, des Vorstellens, das Subjekt der Macht, des Wissens, der Geschichte verschwindet“.[2] Wir sind schon lange in Auflösung begriffen, „zugunsten einer diffusen, schwebenden, substanzlosen Subjektivität: eines Ektoplasmas, das alles umhüllt und in eine riesige Oberfläche verwandelt, die ein leeres, der Realität entfremdetes Bewußtsein widerspiegelt“[3], berichtete Jean Baudrillard in seinem Text Warum ist nicht schon alles verschwunden?, bevor er, der Prophet der Auflösung, selbst aus dieser Welt verschwand.

Welches Bewusstsein? Welche Realität? Leben wir nicht ohnehin längst in der Hyperrealität als Simulakren unter Simulakren, Kopien von Kopien, die auf nichts reales mehr verweisen?[4] Das wäre toll. Das wäre wirklich wunderbar! Dann müssten wir ja gar nichts mehr tun.

Aber stehen wir denn überhaupt noch auf der Erde? Haben wir nicht schon mit der Erfindung digitaler Speichermedien in den 1940ern den festen Grund der Tatsachen verlassen? Uns den obskuren Gesetzen der Quantenmechanik überantwortet, deren Sprache wir nicht sprechen, die sich uns nur in virtuellen Modellen mitteilen und die uns die Computer brachten, die Raketen, die Atomwaffen und das Kamerahandy? Und die uns nun selbst auf Operatoren eines Betriebssystems reduzieren, dessen Entscheidungen sich uns immer weiter entziehen?

„Digitale Medien und ihre quantenmechanischen Episteme rechnen aus ihren Prozeduren Entropien heraus, erzeugen Bilder einer selbstreferentiell 'konstruierten Realität', einer 'unerreichbaren Welt', diesseits deren sie Abbau an Struktur hinterlassen, ohne daß es davon noch Bilder gäbe“, so Medienwissenschaftler Wolfgang Hagen über den Stand der technischen Dinge. „Halten wir, um uns zu sehen, weiterhin an Bildern fest, so werden wir irren.“[5]

Bis in die Moderne wurde die eigene Position von den Sternen abgelesen. Die Fotografie versprach, deren Licht auf die Erde zu holen. „… die Photographie des verschwundenen Wesens berührt mich wie das Licht eines Sterns“, schrieb Roland Barthes, kurz vor der Apotheose der Analogfotografie.[6] Zur Zeit ihrer Erfindung hoffte der Astronom und Chemiker John F. W. Herschel, auf den Silberplatten die chemische Zusammensetzung des Lichtes selbst zu lesen. Stattdessen warfen sie, wie alle Materie, nur das beim Betrachten einfallende Licht zurück.

Doch mit der Digitalfotografie hat sich Herschels Hoffnung erfüllt, schreibt Wolfgang Hagen. „Deshalb hat die digitale auch die chemische Fotografie weitgehend aus der Astronomie verdrängt. Quantenmechanisch ist eine Lichtausbeute zu haben, die jede mögliche chemische Licht-Speicherung um ein Vielfaches übersteigt.“[7] So entstanden Teleskope, die Himmelskörper im Anflug erkennen können. Und so entzog sich zugleich mit der Beobachtung ihr Gegenstand. „[D]ie Erfindung des technischen Bildes in all seinen Formen ist unsere letzte große Erfindung auf der verbissenen Suche nach einer 'objektiven' Realität […] Nun scheint sich aber der Spiegel selbst im Spiel verfangen und alles in eine digitale virtuelle Realität verwandelt zu haben.“[8] „Im Zuge der Digitalisierung wird man bald keinen Film mehr finden, keine empfindliche Oberfläche, auf der sich die Dinge im Negativ einschreiben. Es wird nur noch ein Bildprogramm geben, einen digitalen Effekt in Milliarden von Pixeln sowie eine unerhörte Leichtigkeit von Aufnahmen, Bildrückkopplungen und ‚Photosynthesen‘ von allem möglichem.“[9]

Was bleibt, ist Baudrillards liebste Fieberfantasie: die Wüste. Horizonte hintereinandergeschalteter Halbleiter (die ja ihrerseits aus Quarzsand bestehen), in denen Daten endlos zirkulieren, ohne dass noch jemand nach ihrer Bedeutung fragte. Das Ende des Sozialen, das Ende der Möglichkeit von Geschichte. „Am Ende dieses unaufhaltsamen Prozesses, der zu einem vollkommen objektiven Universum führt, das in gewissem Sinne das höchste Stadium der Realität darstellt, gibt es kein Subjekt mehr, niemanden mehr, um dieses Universum zu sehen.“[10]

Im Chor, der das Verschwinden der Realität im Digitalen beschwört und in dem viele mitsingen, führt Baudrillard den reinsten, erratischsten, quecksilbrigsten Sologesang, das überlegene Destillat all der technologisch-deterministischen Alarmmeldungen: Die Bilderflut! Die Zerstreuung! Die Wirklichkeit verflüchtigt sich! Die Technik übernimmt! Raum und Zeit lösen sich auf! Wir sind global entfremdet! Wir stecken schon gar nicht mehr in Körpern!

Was macht die Apokalyptik im Allgemeinen so attraktiv? Sie bietet ein geschlossenes Modell. Sie verspricht den erhöhten Standpunkt überlegenen Bewusstseins bei gleichzeitiger Entbindung von praktischen Konsequenzen: Es wird ganz schlimm, aber wir können nichts tun. Aus dieser Gewissheit rührt die kosmische Gelassenheit, die Kirsten Dunst in Melancholia gewinnt, je näher das Ende rückt. Früher war vor dem Heraufkommen des jüngsten Tages noch Buße zu leisten. Heute darf man sich freuen, dass auch die Schulden bald verschwunden sein werden. Die Apokalyptik macht die Nervösen, die Hysteriker, die Melancholiker zu Weisen, die über alle Narren lächeln dürfen, die noch im Kreis rennen und an gesellschaftliche Veränderung glauben.

Mir ist klar, dass ich hier Dinge ganz unzulässig vermische. Baudrillard ist kein einfacher Apokalyptiker. Aber er ist Fatalist: In seinen Diagnosen der Mediengesellschaften ist der schlimmstmögliche Fall bereits eingetroffen, jedenfalls unabwendbar. Wenn Baudrillard sagt, dass keine Gebrauchs- und nicht einmal mehr Tauschwerte zirkulieren, sondern nur noch wild wuchernde Simulakren, und dass jeder Versuch von Widerstand diese simulierte Ökonomie nur stütze, dann reklamiert er eine exterritoriale Position, die sich dem Anspruch auf Überprüfbarkeit entzieht. Baudrillard denkt Entwicklungen (wie die digitale Vernetzung oder den globalen Terrorismus) bis zu ihrem Fluchtpunkt fort, während der ironische Dialektiker eigentlich weiß, dass sich nie eine Seite der Geschichte letztgültig durchsetzt, auch nicht das Ende der Geschichte.

„Wir wollen möglichst viel über unseren Feind wissen, der Kurs auf die Erde nehmen könnte“, sagt Alan Harris, Leiter des Asteroidenabwehrprogramms „Neoshield“.[11] Harris entwickelt Methoden, den 2029 erwarteten Asteroiden Apophis vor seinem Zusammentreffen mit der Erde aus der Bahn zu bringen oder zu sprengen. Fast fünf Millionen Euro gibt die Europäische Kommission dafür aus. Die für eine Übungsmission nötigen 100 Millionen Euro sind nicht vorgesehen. Überhaupt: Apophis wird 2029 gar nicht auf die Erde prallen. Das bekam der Journalist Marcus Jauer durch einfaches Nachfragen heraus. Apophis wird in einem Abstand von 30 000 Kilometern an der Erde vorbeifliegen. Nur wenn deren Schwerkraft ihn aus der Bahn lenkt, wie es in „Melancholia“ mit dem Saturn geschieht, könnte er sieben Jahre später zurück kehren. Die Wahrscheinlichkeit dafür beträgt 1:250 000. Wahrscheinlicher ist, dass irgendein anderer Asteroid plötzlich unerkannt aus dem Dunkel auftaucht und ohne Vorwarnung auf die Erde knallt.

Es ist also viel schlimmer, als die Apokalyptiker sagen: Der jüngste Tag kommt nicht. Trotzdem gewann das „Neoshield“-Programm dank der suggestiven Kraft der Wahrscheinlichkeitsrechnung eine offene Ausschreibung der Europäischen Kommission auf fünf Millionen Euro. Naja, die Europäische Kommission wollte wohl einfach eine Asteroidenabwehr. Als läse man in den Sternen keine Wahrheiten mehr über sich selbst, nur noch die Gefahr. Vielleicht ist Virtualität also weniger ein Problem der Technik als eins der Menschen.

Und welche Virtualität überhaupt? Wer die Bedrohung des Virtuellen ernst nimmt, braucht einen starken Realitätsbegriff. Baudrillard selbst beschreibt Realität als Fantasie der Moderne: Sie ergibt sich im selben Maß, in dem die natürliche Welt auf Distanz gebracht wird. „Man kann also sagen, daß die reale Welt paradoxerweise genau zu jenem Zeitpunkt zu verschwinden beginnt, da sie zu existieren beginnt.“[12] Oder, wie es bei Martin Heidegger heißt: Die Technik stellt das Seiende und macht es zum Ge-stell, womit der Mensch den Seinsbezug verliert. Nun, das ist ja nicht so schlimm: Jeder Begriff und jede Aussage (und jedes Bild) stellen eben Werkzeuge dar, deren Bedeutung sich aus ihrem Gebrauch ergibt[13] – sie sind Einsätze im gesellschaftlichen Raum.[14]

Vielleicht steckt hinter dem Pathos des Verschwindens tatsächlich Melancholie: Die Trauer um den Verlust der einheitlichen Perspektive; des souveränen Überblicks; des Glaubens an Wahrheiten, die von Medium und Sprecherin unabhängig wären. Im Namen des Überblicks wurde lange versucht, die Fotografie aus der Kunst auszuschließen: Ihre Detailtreue schien den Blick für's große Ganze zu gefährden.[15]

Doch welches Ganze? Welcher Überblick? Sigrid Weigel zeigt, dass die Privilegierung des Überblicks eine recht junge Idee ist, ähnlich jung wie das moderne Museum.[16] Haben Bilder doch ihren Ursprung im Kult, wo „Bild und Person Teil ein und desselben Schauplatzes“ sind und „sich der Betrachter gleichsam im Bild“ befindet.[17] Tatsächlich arbeiteten technische Bilder als Zeugen des Realen der Distanz zwischen Betrachter und Gegenstand noch zu. Wer weiß, vielleicht eröffnet die Loslösung von festen Bildträgern bei reflektiertem Gebrauch den Weg zurück zum Kult: In einen fließenden Austausch von Bildern, der nicht vom irreführenden Fetisch der Objektivität reglementiert ist, sondern die Motive selbst zum Sprechen bringt, jene auf der Bildebene und jene der darin aufgehobenen Begehren. Die Rede vom Verschwinden des Realen wäre dann ein letztes Beharren auf der Möglichkeit souveränen Überblicks, und das Ende der großen Erzählungen wäre die letzte große Erzählung, mit der die Metaphysik ihre Trägerraketen fallen lässt um ins Reich der Fiktion zu entschwinden, uns zurücklassend mit den realen Bedrohungen, die sich direkt vor unseren Augen abspielen.

In der Salzwüste um Salt Lake City entsteht gerade etwas, das einer Realisierung von Baudrillards Szenarien ziemlich nahe kommt:

die Einrichtung mit dem ungenauen Namen Utah Data Center entsteht im Auftrag der National Security Agency. Das Projekt von höchster Geheimhaltung ist das letzte Stück in einem komplexen Puzzle, das im Lauf des letzten Jahrzehntes Form annahm. Seine Aufgabe: das Abfangen, Entziffern, Analysieren und Speichern gewaltiger Teile der weltweiten Kommunikation, wie sie von Satelliten herab schießen und durch die unterirdischen und die Untersee-Leitungen internationaler, ausländischer und heimischer Netzwerke zischen. Das schwer befestigte, zwei Milliarden teure Zentrum soll im September 2013 betriebsbereit sein. Alle Arten von Kommunikation werden durch seine Server und Router fließen um in nahezu endlosen Datenbanken gespeichert zu werden, darunter der komplette Inhalt privater Mails, von Mobiltelefonaten und Google-Suchen, auch alle Formen persönlicher Datenabdrücke – Parkscheine, Reisepläne, Buchkäufe und anderer Zettelkram. […] "Jeder ist ein Ziel; jeder, der kommuniziert, ist ein Ziel." Magazin Wired, März 2012[18]

[1] Marcus Jauer, ,Vom Ende her‘, Frankfurter Allgemeine Zeitung Feuilleton, 7 April 2012.
[2] Jean Baudrillard, Why Hasn’t Everything Already Disappeared?, trans. Chris Turner (London: Seagull Books: London, 2009), p. 27.
[3] Ibid.
[4] Jean Baudrillard, Simulacra and Simulation (Ann Arbor: University of Michigan Press, 1994).
[5] Wolfgang Hagen, ‚Die Entropie der Fotografie: Skizzen zu einer Genealogie der digital-elektronischen Bildaufzeichnung‘, in Herta Wolf, Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters (Berlin: Suhrkamp:, 2002), p. 235.
[6] Roland Barthes, Camera Lucida (New York: Hill and Wang, 1982), pp. 80–81.
[7] See Hagen, p. 233.
[8] Baudrillard, Why Hasn’t Everything Already Disappeared?, p. 33.
[9] Ibid., p. 38.
[10] Ibid., p. 34.
[11] Jauer, ,Vom Ende her’.
[12] Baudrillard, Why Hasn’t Everything Already Disappeared?, p. 11.
[13] Ludwig Wittengenstein, ,Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache‘, in Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (Berlin: Suhrkamp: 1997), p. 262.
[14] Perhaps this is what will disappear first, the agitated plying of the idea of the ‘virtual’. Then no one will say ‘I was on the Internet’ anymore because the artificial delimitation of a non-networked world will no longer make any sense.
[15] See Sigrid Weigel, ,Bilder als Hauptakteure auf dem Schauplatz der Erkenntnis‘, in Jörg Huber, ed., Ästhetik Erfahrung (Vienna & New York: Springer Verlag, 2004), p. 202.
[16] ‘This identifying of art and overview is the result of the enclosing of images in the frames of panel pictures and paintings in European art history.’ Weigel, p. 202.
[17] Ibid.
[18] James Bamford, Wired, 15 March 2012, online at: http://www.wired.com/threatlevel/2012/03/ff_nsadatacenter/ (last accessed 26 July 2012).

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für kunstkritik 2012

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der Akademie der Künste 2018