Haydn in Kurdistan

Das Jugendorchester des Irak lernt über das Internet und trifft sich nur einmal im Jahr zum Proben. Jetzt spielt es beim Beethovenfest in Bonn. Ein Werkstattbesuch in Kurdistan

Wenn Washaq vor drei Jahren zur Schule ging, rannte er von Haus zu Haus, um kein Ziel für die Scharfschützen abzugeben.

Wenn Tuqa zur Orchesterprobe wollte, verstaute sie ihr Cello so schnell es ging im Taxi, um es vor den Blicken der Nachbarn zu verbergen.

Wenn Frand Trompetenstunden wollte, dann blies er seine Übungen vor einer Webcam. Funktionierte das Internet, dauerte es oft einen Tag, bis das Video im schottischen Manchester ankam. "Halte die Trompete aufrecht", schrieb Jonathan Thomson zurück. "Achte auf die Dynamik." In Bagdad gibt es seit dem Krieg keine guten Musiklehrer mehr.

Heute testet Washaq auf einem Sofa in der Lobby des Hotel Geneva im nordirakischen Arbil seine frischen Deutschkenntnisse. Tuqa navigiert hochkonzentriert durch die Partitur von Beethovens Violinkonzert in D-Dur. Und der 17jährige Frand sitzt mit seiner Trompete im Hotelzimmer, vor ihm auf der Bettkante Jonathan, und als Frand eine Partie aus einer Haydn-Sinfonie beendet hat, springt Jonathan auf und gibt Frand five: "Super, das war fantastisch."

Jonathan Thomson, 26, ist freischaffender Trompeter, das heißt, er spielt heute Dvo?ák in London und morgen Balkanbeats in Hamburg. Als einer von zwölf Tutoren ist er zum zweiten Mal nach Kurdistan geflogen, um dem Nationalen Jugendorchester des Irak unter die Arme zu greifen. Diesmal ist der Anspruch besonders hoch: Am ersten Oktober spielt das erst zwei Jahre alte Orchester, das sich nur einmal im Jahr zum Proben treffen kann, beim Beethovenfest in Bonn.

Jedes Jahr wird ein Jugendorchester aus dem Ausland nach Bonn geflogen und im Orchestercampus der Deutschen Welle auf den Auftritt vorbereitet. Es waren junge Musiker aus Peking da, aus Johannesburg und letztes Jahr aus São Paulo. Doch einen so wahnwitzigen organisatorischen Kraftakt wie dieses Mal gab es noch nie. Es treten auf: Ein schottischer Dirigent. George Bush. 43 Musikfanatiker. Ein pensionierter Oberstudienrat aus dem Rheinland. Und der Hofkomponist der Queen.

"Das wichtigste ist die Atmung", erklärt Thomson beim Mittagessen. "Oft sitzen die Bläser nicht aufrecht oder sie pressen, so dass sie nur einen Teil der Lunge nutzen."

Die Atmung: Damit kämpft wohl jeder Anfänger. Aber wenn der Anfänger aus dem Irak kommt, dann ist das mit der Atmung eine verdammt gute Metapher. Wie soll man auch frei atmen lernen, wenn auf dem Weg zur Schule oder zur Probe ein Extremist lauern kann, der keine Männer mag, die Haydn mögen und keine Frauen, die Hosen tragen und Klavier spielen können.

Zuhal Sultan war Pianistin des irakischen Symphonieorchesters und 17 Jahre alt, als sie den Plan fasste, ein eigenes Orchester zu gründen. Es sollte junge Leute aus allen Teilen des Irak zusammen bringen und die Gräben zwischen Kurden, Shiiten und Sunniten überwinden. Aber wie baut man in einem politisch instabilen Land ein Orchester auf? Das gleicht der Aufgabe, das Land selbst aufzubauen. Und der Zusammenhang ist mehr als nur symbolisch.

Mohammed Amin Ezzat ist Chefdirigent des Nationalen Symphonieorchesters in Bagdad. Er hat in den Achtzigern in Rumänien studiert, und wenn er mit blitzenden Augen und Grinsen im Vollbart kulturelle Gemeinsamkeiten zwischen dem Ceaucescu- und dem Saddam-Regime feststellt, spricht daraus eine gewisse Großzügigkeit gegenüber der Vergangenheit. Tatsächlich musste Ezzat 2002 ins schwedische Exil gehen. Dort erreichte ihn 2003, nach der US-Invasion im Irak, eine Einladung nach Washington.

Ezzat hat einen Ordner mit Zeitungsartikeln und Fotos mitgebracht: Er mit George W. Bush im Weißen Haus, er mit Condoleeza Rice nach einem Konzert. Der US-Präsident wollte wissen, was man im Irak für die Klassik tun könne. 1200 US-Dollar verdient nun monatlich jeder Musiker des Symphonieorchesters, in dem auch viele Teilnehmer des Jugendorchesters spielen, darunter Frand, Tuqa und Washaq. Trompeter Frand verdient also, gemessen an der Arbeitszeit, mehr als sein Tutor Jonathan. Dafür hat er auch den gefährlicheren Job.

Frand spricht auch fast besser Englisch als der Besuch aus Deutschland. Warum, verrät sein Simpsons-T-Shirt.

Überhaupt scheinen hier alle gebildet, einigermaßen vermögend und international orientiert. Armut ist im Irak, der die größten bekannten Ölreserven der Erde hält, nicht so das Problem. In der autonomen Region Kurdistan, die ihrerseits die größten Ölreserven des Irak hält, herrscht sogar relative Stabilität, weshalb die Proben in der kurdischen Hauptstadt Arbil stattfinden, unter den Augen eingeladener Journalisten. Die über 4000 Jahre alte Stadt erlebt einen Bauboom, vor allem türkische Investoren ziehen Hotels und Bürohäuser hoch. Die türkischen und iranischen Angriffe gegen die PKK, nur hundert Kilometer entfernt, sind während der Probentage kaum Thema.

Zweiter Tag im ocker-braunen Konferenzraum des Hotels, die Ventilatoren kreisen, der Beethoven klingt so naja. Ein Dolmetscher übersetzt die Kritik des Dirigenten ins Arabische, ein anderer ins Kurdische. "Ihr müsst Euch immer an der Solovioline orientieren. Die Solistin in Bonn wird etwas ganz anderes machen." Das steht zu erwarten, denn die Solistin in Bonn heißt Arabella Steinbacher. Der Solist in Arbil spielt wie ein Aufziehvogel.

Zuhal Sultans Orchesterpläne fanden bald das Interesse einer britischen TV-Firma, und als sie die Pressemitteilung "Irakische Jugendliche sucht Musiker" verschickte, meldete sich der Schotte Paul MacAlindin. "Zuhal erfand für mich die Stelle des musikalischen Direktors", erzählt MacAlindin, der in Köln lebt, amüsiert. Keinen Moment lässt er den Eindruck entstehen, es ginge ihm primär um Jugendarbeit oder Nächstenliebe. Er teilt den britischen Sinn für's Absurde, und besonders scheint er es zu lieben, wenn das Absurde Wirklichkeit wird. Als sein alter Freund Peter Maxwell Davis vom Projekt hörte, ernannte er sich selbst zum "Ehrenkomponisten in residence". Nach drei Jahren hat Davis endlich ein Stück geliefert, das in Bonn als Zugabe geplant ist. Es heißt "Reel of Spindrift, Sky" und ist Kate und William gewidmet. Davis ist nämlich Hofkomponist der Queen.

Das ungleiche Paar aus einem ergrauenden Schotten und einem Teenager aus Bagdad trieb das Projekt nun gemeinsam voran. Sultan warb dem irakischen Vizepremier über Twitter eine 50 000 Dollar-Spende ab, MacAlindin gewann die Unterstützung durch das British Council. Auf einen Aufruf im Internet hin bewarben sich 53 irakische Musiker mit Youtube-Videos. Dieses Jahr gingen schon 130 Bewerbungen ein. Die meisten Musiker sind Autodidakten. Aber, so MacAlindin: "Das hier sind die besten Musiker des Irak. Sie sind die künftigen Musiklehrer."

Cellist Hussam Amin Ezzat, der Sohn des Dirigenten in Bagdad, stockt sein Gehalt vom Nationalorchester schon jetzt mit Unterricht auf. Er ist 23, er ist schön, er hat Geld, aber er ist unzufrieden. "Ich möchte schwimmen gehen", sagt er. "Aber wir haben in Bagdad kein richtiges Schwimmbad. Ich möchte Mädchen treffen, aber die haben zuviel Angst, auf die Straße zu gehen. Ich möchte andere Leute sehen. Ich möchte neue Sachen lernen, irgendwas."

Hussam heißt Säbel, und konzentriert wie ein Kämpfer führt er auch den Bogen. Viele spielen hier, als gälte es etwas zu erobern. Die Musiker wissen, dass sie mehr verdienen, als das was sie haben, und sie sind entschlossen, es für sich und ihr Land zu holen. Die Tutoren sind beeindruckt über die Geschwindigkeit der Fortschritte.

Nach zwei Wochen in Arbil leben die Musiker bei Bonner Gastfamilien und werden weitere zwei Wochen von Tutoren des Bundesjugendorchesters betreut. Beim Konzert, das unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten steht, werden sie durch 16 Mitglieder des BJO unterstützt.

In der ersten Probenwoche in Arbil ist allerdings noch gar nicht klar, ob alle ausreisen können. Es fehlen Urlaubsbefreiungen des Bildungsministeriums für die Staatsangestellten. Manchen wurde mit Kündigung gedroht. Ein Empfehlungsschreiben des deutschen Generalkonsuls sollte helfen, ging aber auf dem Weg ins Ministerium, das auf der gegenüberliegenden Straßenseite liegt, verschollen. Auftritt Karl-Walter Keppler.

Beige Freizeithose und braun geringeltes Polohemd fügen sich farbig ins Dekor des Hotels. Keppler, pensionierter Englisch- und Geschichtslehrer, hat in Köln den Freundeskreis des National Youth Orchestra of Iraq gegründet. Er hat Spenden gesammelt und eine Orchestertrommel aus Wien geliehen. Nun läuft er über die staubigen Straßen der kurdischen Hauptstadt, wischt sich den Schweiß von der Stirn und klopft an Ministerientüren. Als er endlich mit einer neuen Kopie des Konsulatsschreibens im zuständigen Büro angekommen ist, ist das alte Schreiben schon da.

"Hier läuft vieles intuitiv", erklärt Dirigent MacAlindin. "Der Irak besteht aus Sammeskulturen, man kann hier nur mit Emotionen kommunizieren, mit Augenkontakt." Aber mit Stammeskulturen kennt MacAlindin sich ja aus: Er dirigiert Orchester. "Ich erlebe hier nichts, das ich nicht auch schon woanders erlebt hätte."

Zana Jalal Ali und Rezhwan Ahmed Othman aus Sulaimaniyya spielen seit zwei Jahren beim Orchester. Inzwischen haben sie geheiratet und das "Kurdistan String Quartet" gegründet. Es bemüht sich um die Verbreitung kurdischer Musiktradition und hat auch schon in Wien gespielt. "Wir sind Kurden", stellt Zana klar. "Wenn mich jemand einen Iraker nennt, gibt es Streit." Letztes Jahr habe es Probleme mit den arabischen Musikern gegeben. Jetzt laufe es schon besser.

"Die Kurden sind anders, als mir erzählt wurde", sagt Oboist Ahmed aus Bagdad. "Sie sind wirklich cool." Vielleicht ist es nicht schlimmer als wenn ein Schwabe über Sachsen spottet, wenn man in diesen Tagen auch Sätze hört wie: "Kurdisch ist eine dumme Sprache."

Was aber Kurden und Araber trennt, lässt die Geschichte ahnen, die Geiger Rebaz Sadiq Fathallah aus Halabdscha erzählt. Er war vier Monate alt, als zum Ende des Krieges gegen den Iran 5000 Bewohner seiner Stadt in einem Giftgasangriff durch Saddams Truppen starben. Fathallahs Familie gehört zu denen, die rechtzeitig fliehen konnten. "Meine Mutter war kurz davor, mich zurück zu lassen, weil sie zu schwach war." Rebaz ist das Erzählen ein Anliegen, seine Arbeit gegen das Vergessen. "Unter Arabern gibt es noch immer Hass auf Kurden", sagt Rebaz. "Ich mache Musik, um den Hass aus meinem Herzen zu spielen."

Querflötist Waleed Ahmed Assi kommt aus der lange unterdrückten kurdischen Grenzstadt Kirkuk, die noch heute von Arabern für das Kernland beansprucht wird. "Immer wenn ich spiele, kommen schlechte Erinnerungen hoch", sagt Waleed. "Im Spielen verwandle ich sie in Musik."

Waleeds Gesicht ist es auch, das noch lange nachstrahlt, hat man ihn einmal tanzen sehen, auf der Rückfahrt vom Abendessen ins Hotel, der Beethoven klang heute richtig gut, der Busfahrer dreht das scheppernde Radio laut, dreißig Hände nehmen den Takt auf, Waleed steht als erster, und alle reihen sich ein, Kurden, Araber und zögerlich auch die Tutoren aus Manchester und New York. Wild schwankend steht der Bus an einer Ampel, aus den Nachbarautos winken erstaunte Familien, und man bekommt eine Ahnung davon, was 43 Musikbegeisterte gemeinsam erreichen können.

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für kunstkritik 2012

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der Akademie der Künste 2018