Harmonie ist eine Strategie

Lost in Translation: Mit Alexander Liebreich leitet ein Deutscher das wichtigste Klassik-Festival Südkoreas. Was er braucht, hat er reichlich - Geduld. Ein Besuch in Tongyeong

Welt am Sonntag, 17. April 2011

"Hallo, hier spricht Kolja Reichert. Gut, dass ich Sie erreiche."

"Entschuldigung, wer spricht da?"

"Kolja Reichert, der Journalist, der zum Musikfestival Tongyeong anreist. Ich stehe am Bahnhof in Busan. In Deutschland wurde mir gesagt, ich würde hier abgeholt werden, aber ich warte jetzt schon eine halbe Stunde und ..."

"Ah. Wo sind Sie?"

"Am Hauptbahnhof von Busan."

"Sind Sie schon in Korea?"

Ich lache. "Ja, in zwei Stunden ist doch das Eröffnungskonzert. Wissen Sie, ich bin den ganzen Weg aus Berlin angereist, und jetzt stehe ich hier ohne jede Information ..."

"Entschuldigung, wer sind Sie?"

"Ich bin einer der Journalisten aus Deutschland ..."

"Ah! Sie sind noch in Deutschland?"

"Nein! Ich bin in Busan! Busan! Busan Busan Busan Busan Busan!"

"Aaaaah. Busan!"

"Ja."

"Das ist sehr weit weg."

Woran erkennt man den westlichen Reisenden? An der Unerbittlichkeit im Anspruch. An der mühsam unterdrückten Ungeduld im Ton. Hätte ich mich nur besser vorbereitet. Dann wüsste ich, dass hier nicht nur zwei kaum kompatible Formen schlechten Englischs aufeinanderprallen; sondern auch verschiedene moralische Systeme. Wie sagt man im Taoismus? "Der Weg, der sich verhandeln lässt, ist nicht der Weg."

Nachdem am Abend auch noch das Gepäck verschwindet, steht ein ungewaschener Journalist im Festivalbüro und brummelt, wie schlecht er sich behandelt fühlt. Da beginnt die Offensive. "Ich möchte mit Ihnen darüber sprechen", sagt die Praktikantin. Sie bringt Kaffee und süße Teigbällchen mit Bohnenfüllung, eine lokale Spezialität. "Ist jetzt alles gut?"

Ich möchte sagen, dass die Praktikantin keine Schuld trifft. Dass sich nur jemand Verantwortliches entschuldigen kann. Doch in Korea geht es nicht so sehr darum, in der Schuld oder im Recht zu sein. Das Recht als allgemeingültiger Maßstab ist in der konfuzianisch geprägten Gesellschaft ein Importprodukt. Erst diente es den japanischen Besatzern als Herrschaftsinstrument, dann der Militärdiktatur. Koreaner leben ganz in Beziehungen. Das höchste Gut ist Harmonie. Das Heer unbezahlter Festivalhelfer, das sich vorwiegend aus Seouler Kompositionsstudentinnen rekrutiert, wird in den nächsten Tagen immer zur Stelle sein, freundlich und um Lösungsfindung bemüht.

"Ich bräuchte noch den Schlüssel für Ihren Wagen", sagt eine Mitarbeiterin zum künstlerischen Leiter. Alexander Liebreich wollte gerade zwei Gäste zum Essen ausfahren. "Warum brauchen Sie den Schlüssel für meinen Wagen?"

"Wir müssen ihn heute zurückbringen." Es ist der dritte von sieben Festivaltagen.

"Warum müssen Sie meinen Wagen zurückbringen?"

"Wir finden bestimmt einen neuen Wagen für Sie."

Alexander Liebreich hat sich als künstlerischer Leiter des Münchner Kammerorchesters einen Namen gemacht, mit anregenden Verbindungen von Klassik und Zeitgenössischem. Er dirigiert mit einnehmender Offenheit und sanftem Druck, er bewahrt immer einen Teil der Energie in der Reserve, hält die Stille präsent.

Auch in Momenten wie diesem zeigt Alexander Liebreich höchste Konzentration. Er nimmt sein Gegenüber mit präzisen Fragen in die Mangel, ohne Vorwurf, die Lösung im Blick. Er passt gut nach Asien. Seit diesem Jahr leitet der gebürtige Regensburger Koreas wichtigstes Musikfestival in der Küstenstadt Tongyeong, das sich dem Erbe des koreanisch-deutschen Komponisten Isang Yun widmet. Die Zeitschrift "Auditorium" beschreibt den gebürtigen Regensburger als "gutaussehend", auf Programmen und Plakaten blickt er in die Kameras wie Albrecht Dürer mit Kurzhaarschnitt. Musikstudentinnen bitten kichernd um Gruppenfotos. Für alle, die den Maestro nicht selbst erwischen, steht eine Liebreich-Skulptur bereit.

Eine Liebreich-Skulptur? Das übertrifft jetzt auch Liebreichs Erwartungen. Er dachte, die Figur solle Isang Yun darstellen. "Sorry", bestätigt man ihm auf Nachfrage. "It's you."

Man könnte jetzt das Argumentieren anfangen, dass Liebreich noch nicht tot ist, im Gegenteil, er ist 42. Aber der Weg, der sich verhandeln lässt, ist nicht der Weg. Man könnte anhand dieses Ineinanders von Gegenwart und Nostalgie den Koreanern ein eigenes Zeitverständnis unterstellen. Und läge nicht so falsch. "Die Leute sind extrem gut darin, spontan Probleme zu lösen", sagt Liebreich. "Meine Aufgabe ist die langfristige Konzeption."

Sein erstes Programm setzt auf Vielfalt: Mozart von Kwang-Chul Youn, Jazz von You Sun Nah, Schubert vom Kuss Quartett, Musiktheater von Heiner Goebbels und dem Hillard Ensemble. Zur Eröffnung wollte Liebreich das Salzburger Mozarteum-Orchester dirigieren. Nach dem Erdbeben an Japans Ostküste regten sich beim Mozarteum allerdings Bedenken wegen möglicher Strahlung aus Fukushima (1126 Kilometer entfernt). Das Goethe-Institut, Tongyeong-Unterstützer der ersten Stunde, bemühte sich um Aufklärung. Doch die Hysteriker setzten sich über alle Argumente hinweg und verhinderten den Abflug; nach vier Proben mit Liebreich, zwanzig Stunden vor dem Konzert.

In Europa geht es nämlich nicht um Harmonie. Es geht um Sicherheit. Ums Rechtbehalten. Um moralische Überlegenheit. Bisher will in Salzburg niemand den Vertragsbruch bezahlen. Die Philharmoniker der von Beben und Tsunami besonders betroffenen Stadt Sendai standen zum Einspringen bereit; doch so kurzfristig konnten sie nicht kommen.

Zwischen diesen beiden Fronten liegt also Liebreichs neuer Arbeitsplatz: zwischen europäischer Selbstgerechtigkeit und der Improvisierfreude der Koreaner. "Es gibt hier eine wahnsinnige Dynamik", schwärmt Liebreich. "Südkorea erlebt eine enorme Entwicklung in der Musik."

1500 Kompositionsstudenten gehen jährlich von koreanischen Universitäten ab, die meisten von ihnen Frauen. Nachdem Isang Yun die westliche Avantgarde durch die taoistische Musiktradition bereicherte, brachten seine Studenten Neue Musik nach Korea. Auch Unsuk Chin lernte bei Yun-Schüler Sukhi Kang und zählt heute zu den meist bewunderten Komponisten weltweit. "In Berlin gibt es ein großes Publikum für Neue Musik", sagt sie, "aber auch viele Vorurteile. In Tongyeong kommen auch Leute ins Konzert, die man eher auf dem Fischmarkt erwarten würde."

Der Fischmarkt! Tongyeong ist Austernstadt. Es herrscht ein Zappeln und Planschen in Plastikwannen, Verkäuferinnen halten dem Touristen tänzelnde Oktopusse vors Objektiv. Koreaner nennen die Stadt, ein beliebtes Urlaubsziel, auch "Napoli".

Wohl weniger wegen der verstopften Straßen aus Kacheln, Glas und Leuchtreklame als wegen der schönen Meerlage mit rund 200 hintereinandergetupften Inseln. Liebreich träumt schon von Bootsfahrten zu Freiluftkonzerten in einem der zahlreichen Schreine.

"Schreiben Sie gut über Tongyeong", sagt Bürgermeister Dong-Jin Kim, die Hand auf den Unterarm des Gegenübers gelegt, und wieder weht eine Brise Neapel von den Bootsanlegern in die Bar. Kim war schon mal Bürgermeister, bevor er 2002 wegen Korruption zurücktrat. Damals war er gegen den Bau einer Konzerthalle für das neue Festival. Erst 1997 war eine andere fertig geworden.

Deshalb nahm Seung Kim, Festivalleiter und Geschäftsführer, den Bürgermeister mit auf Europatour. Er zeigte ihm Salzburg und Donaueschingen, setzte ihn mit dem Bürgermeister von Luzern zusammen und verwandelte ihn in einen glühenden Unterstützer. Jetzt bekommt Tongyeong sogar die flexibel gestaltbare Bühne, die Luzern fehlt.

Kurz vor dem Kinderkonzert mit Theo Loevendies "Nightingale" horcht Liebreich nochmal rum, ob alles klappt. Hat die Schauspielerin den einführenden Text bekommen?

"Oh, der Text ..."

"Was ist mit dem Text?"

"Wir wissen nicht, wo er ist."

Der Text soll dem Nachwuchs Isang Yun vorstellen. Er erzählt, wie Yun 1967 vom koreanischen Geheimdienst von Berlin nach Seoul verschleppt, gefoltert und zum Tode verurteilt wurde, weil er Diktator Park Chung-hee kritisiert hatte und nach Nordkorea gereist war.

Nordkorea. Schwieriges Thema. Liebreich hat auch schon im Auftrag des DAAD in Pjöngyang gelehrt und mit dem dortigen Yun-Orchester Bruckner gespielt. Privat würde er nicht hinreisen: "Dann könnte ich hier zumachen."

Liebreich besteht auf den Text. Und bekommt ihn. "Was in der Übersetzung übrig ist, weiß ich natürlich nicht."

Isang Yuns politische Figur scheint für Südkorea noch immer eine Herauforderung. Bis 1992 war sein Werk in Südkorea verboten. Bis er drei Jahre später als deutscher Staatsbürger in Berlin starb, wartete Yun auf einen offiziellen Freispruch. Umsonst. Der Weg, der sich verhandeln lässt, ist nicht der Weg.

Heute hat Tongyeong eine Yun-Straße, ein Yun-Gedenkhaus und einen Yun-Preis. Trotzdem gibt es Künstler, deren Arbeit behindert wird, wenn sie sich seiner politischen Seite nähern. Man könnte glauben, Südkorea sei noch der Diktatur verhaftet. Eine interessantere Erklärung bietet der langjährige Korea-Korrespondent Michael Breen: Die koreanische Schulbildung vermittle historische Details, aber nicht die Methoden, sie einzuordnen und zu bewerten, schreibt er in seinem Buch "The Koreans".

Koreaner schweigen also vom Regimekritiker Yun weniger, weil sie müssten; eher weil sie nicht wissen, wie man über ihn sprechen soll. Besser, man streicht ihn raus.

"Wir wollen das Werk von der Politik befreien", ruft Geschäftsführer Seung Kim. "Wir wollen das Werk von der Politik befreien", ruft Bürgermeister Dong-Jin Kim. So verbindet sich der Name Isang Yun unter dem Diktat der Harmonie mit strukturpolitischen Zukunftsversprechen, und in der Begeisterung bleibt gar kein Platz für die Frage, ob das einem Künstler wie Yun überhaupt angemessen ist.

Liebreich steht mit Morgenkaffee auf dem Balkon des improvisierten Frühstücksraums und blickt über die Baustelle des Festspielhauses. Links liegt das Meer, rechts hämmern die Werften. "Im Westen gibt es ja Bedenken, wir könnten Japaner und Koreaner in ihrer Zurückhaltung überrollen", sagt er, und dann lächelt er wie ein erschöpfter, aber glücklicher Liebhaber: "Haben Sie das Gefühl, dass hier irgendjemand überrollt wird?"

adkv - art cologne preis
für kunstkritik 2012

Will-Grohmann-Preis
der Akademie der Künste 2018