Freiräume vor Firmenlogos

Alle waren da, auch wenn es nicht immer so ausah – und die Musikindustrie hat weiterhin auf viele Fragen kaum Antworten. Eine Bilanz der Berliner Musikwoche

Der Tagesspiegel, 12. September 2010

Manchmal dauert es nur drei Minuten, bis die Stimmung den Siedepunkt erreicht. Etwa beim Referat mit dem schwungvollen Titel „Eine systemtheoretische Analyse der strukturellen Krise der Musikwirtschaft“. Kaum sind die Thesen begriffen, kommt es zu einem Raunen und Räuspern. Die Anzugträger beginnen mit den Beinen zu wippen und die Jüngeren mit den verwuschelten Haaren und den Umhängetaschen lachen spöttisch. „So – ein – Blödsinn!“, „No Way!“, „Jetzt lasst ihn doch erst mal ausreden.“

Ein Hauch WG-Plenum wehte durch die Diskussionen der All2gethernow, der Pop-Konferenz zum Mitmachen, die im Rahmen der Berlin Music Week sechs Tage lang in der Kulturbrauerei und im Flughafen Tempelhof tagte.

Nicht, dass die Einmischungen nicht berechtigt gewesen wären. Das Plädoyer der Künstlerberater Stefan Herwig und Lukas Schneider, dass der Staat das Internet regulieren soll, um den Musikmarkt wiederherzustellen, war doch allzu verkürzt. Da bot Einstein den besseren Rat: „Probleme kann man niemals auf derselben Ebene lösen, auf der sie entstanden sind“, erinnerte eins der vielen Motto-Plakate in den Gängen.

Heißt, auf Kulturgüter bezogen: Wenn die Kunden sich die Ware gratis im Internet holen, braucht man keine Gerichte. Sondern neue Geschäftsmodelle. „Die Leute wollen für Musik bezahlen“, versicherte Scott Cohen vom amerikanischen Lizenzhändler The Orchard. „Wir müssen nur rausfinden, wie.“ Keiner widersprach. Glaubt man Berichten, ist in der letzten Woche inhaltlich nicht viel passiert. Der Eindruck könnte durch den Rahmen des Flughafens Tempelhofs gefärbt sein, in dessen weiten Gängen sich die kargen Messestände (laut Veranstalter 420, gefühlt 40), verloren. Oder durch die mangelnde Produktivität einzelner Podien. Doch ein Grund liegt auch darin, dass es um Pop ging – und dass vom Pop noch immer der Großentwurf erwartet wird, die Rundumlösung. Diese Erwartung stammt noch aus dem 20. Jahrhundert, als wenige große Labels, Radio- und Fernsehstationen die kulturellen Inhalte bestimmten. Heute weiß niemand mit Sicherheit, wie morgen die Musik ihre Hörer findet und die Produzenten ihr Geld. Die Experten sagen: auf vielen Wegen, die keiner alle kennt. Deshalb muss man viel reden.

Der Vielfalt der Kanäle entsprach das Format der Berlin Music Week, in dem sich die verschiedensten Akteure nebeneinander fanden und jeder sein Podium oder Konzert anmelden konnte, nach dem Motto: Platz ist in der größten Halle. Ab 30 Euro Teilnahmegebühr durfte bei der All2gethernow jeder was zur Zukunft des Popvertriebs sagen, vom Manager über den Starproduzenten bis zum Tontechniker. Letztes Jahr sprang das Veranstaltungsformat in die Lücke der abgesagten Popkomm, dieses Jahr verlieh es deren Neustart überhaupt erst den Sinn. Umgekehrt bescherte die Popkomm eine prominente Rednerliste.

Man muss nichts neu erfinden, nur die vorhandene Energie dezent lenken: Das hat der Berliner Senat mit seiner Unterstützung der Berlin Music Week früh kapiert. Und das ist dann ausgerechnet den Veranstaltern des zwischenzeitlich kollabierten Berlin Festivals nicht gelungen: ein ganzes Rollfeld Platz, und dann drückt man die Masse durch fünf Gatter. Klarer Fall von Überregulierung.

Über schmucklose Messestände wie den von Universal lässt sich spotten. Doch ihre Botschaft ist interessant: Es geht weniger um Repräsentation und ums Verkaufen, mehr um Kommunikation, um das Knüpfen von Netzwerken. Indiens größte Rechtefirma ist mit großer Delegation erschienen, erzählt von der Unmöglichkeit, in einem Land mit mehr als hundert Sprachen der Piraterie beizukommen und sucht trotzdem neue Deals.

Die Musikmesse ist kein exklusives Forum mehr, sondern Fortsetzung und Verstärker jener Netzwerke, die sich auch online weben. Die All2gethernow will ab jetzt das ganze Jahr Diskussionen und Workshops veranstalten. Die auf der Music Week diskutierten Entwicklungen sind denn auch nicht neu: Es wird immer weniger für den Besitz von Kulturgütern bezahlt werden als für den Zugriff, wie Will Page skizziert, Chefökonom der PRS, des britischen Pendants zur GEMA: Statt aufwendig Musik zu downloaden, lässt sie sich über Internetradios wie Spotify gegen Abogebühr überall online hören. Überraschung: Viele Kunden kaufen die Musik, die sie hier entdecken, trotzdem. Die zögernde Lizenzpolitik deutscher Rechteverwerter, vor allem der GEMA, verhindert bisher die Markteinführung in Deutschland, doch Page hat gleich den Trumpf im Ärmel: Steffen Wicker, Gründer des deutschen Radios simfy, das sechs Millionen Songs anbietet, auch zum temporären Download. Wicker: „Auch bei der GEMA ändern sich die Dinge.“

Es sind die Frickler und Tüftler, die die Entwicklungen vorantreiben, die kleinen Start-ups, die den großen Konzernen beibringen, wie sie ihre Kunden erreichen können. Amiando bietet mit einem Do-It-Yourself-Ticketservice für Veranstalter eine dringend nötige Alternative zu den marktbeherrschenden Ticketkonzernen. Der Dienst Flattr erleichtert das freiwillige Bezahlen kultureller Inhalte. Und das Musikfernsehen tape.tv hat eine überzeugende Mischung aus redaktioneller und eigener Programmgestaltung gefunden und damit potente Werbekunden. „Web 3.0“ nennen die Experten jene Anwendungen, die schon vor dem User wissen, was er sucht. Das muss man natürlich nicht nur gut finden. Die Zukunft ist jedenfalls flüssig, und die Politik hätte sicherzustellen, dass der Strom nicht wie im Fall des iPad nur durch wenige Konzerne kontrolliert wird. Die Gefahr ist ein Markt, der nur für einige funktioniert. Wie die Konzertbranche, die stellenweise gar von Übersättigung raunte. Für das Livegeschäft skizzierte Peter Schwenkow vom Konzertveranstalter DEAG eine blühende Zukunft aus 3-D-Übertragungen von Konzerten und Opernpremieren, die weltweit live im Kino stattfinden. Bleibt zu hoffen, dass sich auch in Zukunft noch genügend Freidenker finden, die Partys und Konzerte veranstalten und unwiederholbare Erlebnisse herstellen.

„Im Grund meines Herzens bin ich ja auch ein Rock’n’ Roller“, bekannte Herr Schwenkow, was noch mal deutlich machte, dass es nichts Spießigeres gibt als Rock’n-Roll-Bekenntnisse von Konzernchefs. Und dass das Musikgeschäft noch immer eine machistische Männerdomäne ist. Eine der wenigen weiblichen Ausnahmen auf den Podien war GEMA-Kritikerin Monika Bestle.

Die inspirierendste Figur der Woche war jedoch eine Frau: Karin Dreijer. Die Schwedin bringt ihre Musik auf einem unabhängigen Label raus, das gerade so die Kosten einspielt. Ihre entrückte Show als Fever Ray (s. unten) erinnerte eindrucksvoll daran, dass Pop vor allem Freiräume für unverkäufliche Fantasien schafft. „Was ist der Unterschied zwischen einem archaischen Ritual und einem Popkonzert?“, habe ich Dreijer letztes Jahr gefragt. Antwort: „Die Firmenlogos.“

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