Ein Aktionskünstler durchlöchert Berlin

Adrian Lohmüller legt Leitungen zwischen Kunst und Politik. Bei seinen Installationen arbeitet arbeitet er mit Schmutzwasser, mit Seife - und auch mal mit Urin

Der Tagesspiegel, 11. Juli 2010

Ein Sommerabend am Kreuzberger Landwehrkanal, wir haben uns bei der Neueröffnung des Bethanien getroffen und sitzen mit Bier auf der Admiralsbrücke. Beim Aufstehen von der Bordsteinkante stößt jemand eine Bierflasche um. „Oh oh“, sagt Adrian Lohmüller. Doch die Nebensitzer zeigen nur wenig Interesse für das Rinnsal, das sich ihnen nun durch die Ritzen des Kopfsteinpflasters nähert.

Man muss dazu wissen, dass Lohmüller, der mit seinen Installationen gerade in zwei prominenten Berliner Ausstellungen zu sehen ist, viel mit Flüssigkeiten arbeitet: mit Schmutzwasser, mit Seife und auch mal mit Urin. Stoffe, die die Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden überspülen, zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen.

Die Kanalisation: das kollektive Unbewusste.

Jetzt, im Angesicht der rinnenden Bierlache, ist dem Künstler regelrecht anzusehen, wie sich seine Gedankenketten bilden, während er den Blick nicht abwenden kann, wie er den Vorgang in allen Aspekten erfasst, Ursache und Wirkung analysiert und das Geschehen wahrscheinlich noch in Zusammenhang mit globalen Kreisläufen stellt.

Man könnte Lohmüller besessen nennen. Mit größter Ernsthaftigkeit untersucht er die stofflichen Kreisläufe, auf denen das Soziale gründet. Das nebensächlichste Detail gewinnt unter seinem Blick Bedeutung. Er bringt das Ausgeschlossene zum Vorschein, macht das Ganze sichtbar. Und bekommt dafür gerade eine Menge Aufmerksamkeit: 2009 zählte er zu den Stipendiaten des Berliner Senats. Auf der Berlin Biennale hat er einen unübersehbaren Auftritt. Und in der Temporären Kunsthalle grub Lohmüller zwei Meter tief in die Erde. Dazu später mehr.

Lohmüller, 33, gehört zu den vielversprechendsten Berliner Künstlern seiner Generation. Die Künstlerin Christine Hill erinnert sich, wie er in Baltimore in ihre Klasse kam. Der junge Mann aus dem Schwarzwald fiel auf. Er war zielstrebiger als andere. Und hatte eigenwillige Ideen. Wie jene Performance, bei der er in einen Aufzug pinkelte, um auf den Mangel an kostenlosen Toiletten im durchkommerzialisierten öffentlichen Raum aufmerksam zu machen (er wischte wieder auf).

Der Sohn des Malers Otto Lohmüller hatte zunächst Malerei studiert. Doch stieß er in der Zweidimensionalität bald an Grenzen. „Das Feedback drehte sich immer um Flächigkeit und Komposition statt um Inhalte. Da wusste ich, dass ich das Medium wechseln muss.“ Heute arbeitet er in allen Genres: Installationen, Performances, Objekte, Video und konzeptuelle Zeichnungen. Und mit den verschiedensten Werkzeugen: Stift, Zahnbürste, Presslufthammer, Bagger. „Am wichtigsten“, sagt Lohmüller, „ist mir, Leute zum Nachdenken zu bringen.“

Klar, dass Kuratorin Kathrin Rhomberg ihn für die Berlin Biennale auswählte, wo sich diesmal die Kunst gegenüber der Wirklichkeit zurücknehmen soll: Lohmüller setzt keine abgeschlossenen Werke in den Kunstraum. Er legt Leitungen nach draußen, in die Realität. Das Bettzeug, das auf dem Boden des Geschäftshauses am Oranienplatz liegt und Salzwasser aufsaugt, das über ein Leitungsgeflecht aus dem ganzen Haus gesammelt wird, unternimmt das auf symbolische Weise. Doch wird der Besucher von der Szene mit physischer Unmittelbarkeit angesprochen.

Letztes Jahr flutete Lohmüller den U-Bahnhof am Wiener Karlsplatz über die Lautsprecheranlage mit Gähngeräuschen. „Epidemie der Trägheit“ hieß die ansteckende Arbeit. Lohmüller hatte sich mit Viren und deren Verbreitung auseinandergesetzt. Themen, die mit Reflexen wie Angst, Ekel oder Scham behaftet sind, befreit er von Wertungen und legt ihre Funktion im großen Austauschsystem offen. Am Ende steht eine soziale Erfahrung.

In der Temporären Kunsthalle, wo Aktionskünstler John Bock die Arbeiten von 63 Künstlern in einer Materialschlacht bis unter die Decke stapelt, hat Adrian Lohmüller einen exponierten Auftritt: Er hob Beton, Dämmstoff und Erde aus dem Boden und häufte sie an der Wand an. Einige Portionen Erde füllte er in Briefumschläge, die nun auf einer Art Postwagen stehen, bereit an die Zieladresse verschifft zu werden: „Rongelap“.

Das Rongelap-Atoll nordwestlich der Marshall-Inseln steht von hier aus gesehen nicht nur für das andere Ende der Welt, sondern auch für die Geschichte der Atombombe. Nachdem in den sechziger Jahren amerikanische Atomtests ihr Land für Jahrzehnte verwüsteten, leben die Bewohner heute noch immer im Exil auf dem Majuro-Atoll. Um Rongelap wieder besiedelbar zu machen, bräuchte es: frische Erde. Lohmüller lebte 2006 mit der Bevölkerung, begleitete sie bei Protesten und Vorsprachen bei der US-Botschaft – und hielt in Baltimore selbst Vorträge, bei denen er Geld sammelte. „In den Sechzigern war die Tatsache, dass das Land weit weg ist, die Rechtfertigung Atombomben zu zünden“, sagt er. „Heute ist es der Grund, warum man sich nicht um die Folgen kümmert.“ Das Ausgeschlossene – hier fand Lohmüller es im globalen Rahmen. „Bevor ich über etwas sprechen kann, muss ich mich wirklich auskennen“, sagt Lohmüller. Diese Unbedingtheit macht Lohmüllers Schaffen faszinierend. Er braucht keine Distanz zu seinem Gegenstand, er involviert sich selbst als Akteur und reflektiert die eigene Position.

Kürzlich hat Adrian Lohmüller seine Wohnung aufgegeben. In der Mitte seines Ateliers steht nun eine Stellwand. Auf der einen Seite häuft sich das Material; auf der anderen lebt der Künstler: ein Instrument seiner eigenen Arbeit.

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