„Das politische System ist nicht up to date.“

Ob Klimagipfel oder Biennale: Das dänische Kollektiv Wooloo organisiert Unterkünfte in Privatwohnungen – als soziales und künstlerisches Experiment. Mitbegründer Martin Rosengaard über Aktivismus, Geld und Gastfreundschaft

monopol, 19. Juni 2011

Herr Rosengaard, Sie haben für Künstler, die in Venedig ausstellen, Unterkünfte in Privatwohnungen organisiert. Bekommt man als Biennale-Künstler kein Hotelzimmer?
Die Leute sind immer überrascht, wenn sie hören, dass es in Venedig ums Geld geht. Dass ein Messestand in Basel viel kostet, leuchtet ein, aber beim Thema Venedig gibt es die Idee irgendeines magischen, mystischen Kunstwesens, das über dem Geld schwebt. Wir waren vom libanesischen Pavillon eingeladen, der riesige Geldprobleme hatte. Nach vielem Hin und Her bekamen die Organisatoren einen Raum im Arsenale, den sie sich aber nicht leisten konnten. Wir dachten, das beste wäre, ihnen etwas Geld zu sparen. Wir hatten schon vorher Unterkunftsprojekte gemacht ...

... wie 2009, als Sie während des Klimagipfels in Kopenhagen 3000 Schlafplätze für Aktivisten organisierten.
Alle haben uns gesagt, das sei in Venedig unmöglich. Die Leute sind genervt von den Touristen, und während der Biennale ist die Stadt besonders unter Druck. Nichts in Venedig ist umsonst, hat man uns erklärt. Aber immer wenn Leute sagen, dass etwas nicht möglich ist, ist es in der Regel eben doch möglich. Es war ein Experiment: Vielleicht ist Venedig ja gastfreundlicher als alle denken.

Wo haben Sie angefangen?
Auf unserer Online-Plattform Wooloo.org. Wir hatten sie 2001 gegründet, unsere erste Arbeit, das war vor Facebook und Myspace. Wir haben Anfragen dort und auf Facebook gepostet, die wurden von anderen weitergeleitet, und nach und nach meldeten sich Leute, die zum Beispiel sagten: Meine Wohnung ist zu klein, aber hier ist die Nummer eines Freundes. So ging es weiter. Schließlich kamen wir selbst her, um die Teilnehmer zu treffen, bis wir Schlafplätze für alle elf libanesischen Künstler hatten. Dann wurde der libanesische Pavillon abgesagt.

Nur Ihr Projekt blieb?
Das Projekt hatte schon sein Eigenleben entwickelt. Wir hatten die elf Plätze für die libanesischen Künstler und wollten den Gastgebern nicht absagen, deshalb schickten wir E-Mails an jede Teilnehmernation und boten die Unterkünfte an. Die vielen Rückmeldungen waren überraschend. Sogar Deutschland schrieb uns, China und die Arabischen Emirate, reiche Nationen. Wir mussten sehr genau abwägen, wer die Hilfe am nötigsten hatte. Der haitianische Pavillon rief nach zehn Minuten an. Zwei seiner Künstler kommen aus einem Township in Port au Prince, der schon vor dem Erdbeben am Boden war. Es war fast unmöglich, für sie Tickets und Visa zu beschaffen und die Werke durch den Zoll zu bekommen. Ohne die Unterkunft wären sie vielleicht gar nicht gekommen.

Woher der Titel "New Life Venice"? Klingt nach alten Reformbewegungen oder Science-Fiction-Siedlungen.
So nennen wir eine laufende Serie von sozialen und künstlerischen Experimenten, die für uns ein Testfeld sind für neue Wege des Zusammenlebens auf unserem Planeten.

Das größte dieser Experimente fand zum Weltklimagipfel statt.
Der Gipfel war im Dezember angesetzt, es war kalt und eng und alles war ausgebucht, sogar in Südschweden. Aktivisten aus aller Welt wollten Präsenz zeigen, aber man kann im Dezember in Kopenhagen nicht zelten. Die Stadt war ein abgeschlossener Raum. Wir fanden schließlich 3000 Familien, die Leute aufnahmen. Eine 73-jährige Peruanerin reiste an, um indigene Stämme zu repräsentieren. Sie hatte noch nie Peru verlassen und kam beim Geschäftsführer einer Versicherung und seiner Familie unter. Eine Gruppe hatte einen Monat vor dem Gipfel begonnen zu hungern, um während der zwölf Tage dem Hungertod nah zu sein. Einige Familien lehnten ab, sie wollten keine Sterbenden in ihrer Wohnung. Schließlich fanden wir doch eine alte Frau, die sie aufnahm. Auch wenn der Gipfel scheiterte, hatten viele Leute eine großartige Erfahrung. Es war toll, wie sich die Leute organisierten, wie das Projekt abhob und es nicht mehr um uns ging. Damit wurde es zur sozialen Skulptur.

Sehen Sie Ihre Arbeit eher als Kunst oder als Aktivismus?
Man muss jede Arbeit einzeln betrachten. "New Life Venice" ist zu klein, um Aktivismus zu sein. Ich sehe darin einen konzeptuellen Kommentar zu Armut und Reichtum in einem elitären Kunstkontext. Kopenhagen war auf jeden Fall auch Aktivismus. "Artforum" besprach es trotzdem als Kunstwerk. Liegt wohl im Auge des Betrachters. Für die Momentum-Biennale, die jetzt im norwegischen Moss eröffnet, lassen wir zwei Jahre lang den öffentlichen Garten vor der alten Villa brach liegen, die als Hauptausstellungsgebäude dient. Das ist ein Schritt hin zur physischen Skulptur. Wenn du in der Kunstwelt bestehen willst, musst du in formalen Aspekten überzeugen und ich denke, da sind wir noch nicht perfekt.

Erfahren Sie Kritik von Aktivisten dafür, dass Sie sich im elitären Kunstkontext vergnügen?
Nun, das Venedig-Projekt war ganz schön viel Arbeit. Außerdem scheint mir, dass auch die Aktivisten-Community an die Kraft der Kunst glaubt. Auf jeder Ebene der Gesellschaft gibt es diesen Glauben. Jeder will heute Künstler werden, nicht bloß DJ. Ich sehe darin auch einen Glauben an Menschlichkeit. Wer wirklich Aktivist sein will, sollte nicht in der Kunstwelt bleiben. Sie ist aber ein großartiger Ort: Alles wird hier ernst genommen, wenigstens für fünfzehn Minuten, und wenn es Wert hat, wird es akzeptiert. Das politische System ist dagegen nicht wirklich up to date. Wenn Du Dich in der Kunstwelt richtig bewegst, lässt sich dort Befreiung finden.

Wer sind die Gastgeber in Venedig?
Es gibt einen Studenten, eine junge Architektin, eine ältere Lehrerin, die bei Mestre auf dem Festland wohnt ...

Die Organisatoren des haitianischen Pavillons haben erzählt, dass sie in einer anderen Wohnung zusammenrücken mussten, weil es nachts keinen Bus mehr auf das Festland gab.
Man kann nicht alles kontrollieren. Sobald wir Gastgeber und Gäste zusammenbringen, gehört uns das Projekt nicht mehr. Die Leute organisieren sich am Ende immer auf ihre eigene Weise. Bei "New Life Copenhagen" haben ein Gast und eine Gastgeberin sogar ein Kind bekommen.

Wo haben Sie während der Eröffnung gewohnt?
Ich war mit meiner Freundin und unserem Kind hier, deshalb hatte ich eine Unterkunft gemietet. Wir werden nochmal herkommen und mit Gastgebern und Künstlern über die Themen des Projekts diskutieren, dann wohne ich wieder bei den Teilnehmern.

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