„Bilderliebe und Bilderhass sind zwei Seiten einer Medaille.“

Der Vordenker des "pictorial turn" ist in Berlin, um über das Unheimliche in Bildern vom Terror zu sprechen. Sein Vortrag in der Fotogalerie CO Berlin ist eine bewegende visuelle Bilanz der zehn Jahre nach 9/11. Nach der anschließenden Diskussion scheint der 69-Jährige selbst tief gerührt. Spontan lässt er sich auf ein Interview am nächsten Morgen ein: die Frühstücksbar des Mandala Hotel, Mitchell wirkt ausgeruht und nachdenklich.

Süddeutsche Zeitung, 10. März 2012

Herr Mitchell, was ist das erste Bild, an das Sie sich erinnern?
Die Jungfrau Maria. Ich bin als Katholik aufgewachsen. Sie lag als kleine Plastikfigur in einem Gebetsbuch. Man konnte mit den Fingern ihre Konturen nachspüren. Ich war vier oder fünf Jahre alt. Mir wurde erklärt, man dürfe der Jungfrau nicht huldigen, aber es sei okay, sie zu bewundern. Man durfte lieben, aber nicht vergöttern. Das ist eine wunderbare Art, die Grenzen für die eigenen Gefühle kennen zu lernen. Ich denke es ist ein großer Vorteil für einen Ikonologen, katholisch aufzuwachsen.

Wären Sie auch Bildforscher geworden, wenn Sie in einem protestantischen Haushalt aufgewachsen wären?
Ich weiß nicht. Andere Leute mit einer besonderen Beziehung zu Bildern kommen aus bildkritischen Traditionen. Viele der besten Kunstgeschichtler sind Juden.

Teilen Ikonoklasten und Katholiken dieselbe Besessenheit?
Bilderliebe und Bilderhass sind zwei Seiten einer Medaille. Katholiken beginnen in der Regel mit Liebe, Protestanten und Juden mit Misstrauen und Überdruss. Ich werde oft gefragt, ob Bilder nicht bedenkliche Auswirkungen haben und wie man sich vor ihnen schützen kann. Leute sind ängstlich. Bilder machen etwas mit uns. Sie kommen in unsere Köpfe. Sie führen uns in die Irre.

Galten denn Bilder schon immer als gefährlich?
Ich glaube ja. Es ist Teil der menschlichen Natur, dass wir bildschaffende Tiere sind. In kaum einer Kultur sind Bilder neutral. Es gibt viele verschiedene Arten, auf sie zu reagieren, sie zu zensieren, zu kontrollieren, über sie nachzudenken. Das sind Dinge die wir geschaffen haben, woher rührt also die scheinbar irrationale Sorge? Man sorgt sich ja auch nicht über diese Kaffeetasse.

Aber über ein Gemälde dieser Kaffeetasse würden wir nachdenken.
Ja, wenn sie gemalt wird, wird sie etwas Anderes, ein Stillleben.

Es steht still, was bedeutet, dass es uns überdauern wird. Ist das das Ungeheure an Bildern?
Bilder werden uns überleben. Roland Barthes hat gesagt, dass du in dem Moment, in dem du ein Foto machst, weißt, dass das Foto Dich überleben wird, zugleich bist Du in dem Foto. Daher rühren die Tabus rund um die Fotografie. Denken Sie an die Eingeborenen, die nicht fotografiert werden wollen, weil sie denken, dass ihre Seele gestohlen wird.

Was hat sich im Gebrauch von Bildern geändert, seit Sie Ihr erstes Bild kennen lernten?
Ich glaube, der tiefgreifendste Wandel kam durch die Digitalisierung von Bildern. Das veränderte den referentiellen Status von Bildern, das was sie repräsentieren, wie sie zirkulieren, wie sie reproduziert und archiviert werden. Als die digitale Fotografie aufkam, gab es dieses starke Gefühl, dass Fotografie keine Verbindung zum Referenten mehr habe; dass sie ihren indexikalen Charakter verloren habe.

Das Foto beweist, dass etwas so gewesen ist, sagt Roland Barthes.
Ja, der Barthesche Gedanke eines Ursache-Wirkungs-Verhältnisses schien mit der Digitalisierung gebrochen. Ich halte das für einen Mythos. Ich behaupte, dass das digitale Foto eher indexikal ist als das chemische.

Wie das?
Wegen all der Metadaten, die gespeichert werden: die Zeit, der Ort, die Kamera, mit der es geschossen wurde. In Errol Morris' Dokumentarfilm "Standard Operating Procedure" analysiert ein Computerforensik-Spezialist die Fotografien aus Abu Ghraib. Es gab dort drei Kameras. Bei zweien war die Aufzeichnung der Zeitsignatur deaktiviert. Man sieht die Fotos durchlaufen, und es stellt sich heraus, dass der Kapuzenmann auf dem Podest mit den Stromdrähten an den Händen die Achse bildet, die alle drei verbindet. Weil das Bild so einzigartig war, ist klar, dass alle drei Kameras es am selben Tag aufnahmen. Plötzlich klärt sich der ganze Ablauf. Errol Morris hat sich voll der Idee des Dokumentarfilmers als Detektiv verschrieben, der nach der Wahrheit strebt...

Man sollte denken, der Detektiv sei eine Figur aus vordigitalen Zeiten?
Er ist tatsächlich sehr zeitgemäß. Es geht um Indizien, um Spuren, Lippenstift, DNA, Fingerabdrücke. Und um Bilder.

Ihr neuestes Buch heißt "Das Klonen und der Terror". Was haben die beiden gemeinsam?
Einiges. Zunächst sind da die Figur des Klons und die Figur des Terroristen: Sie sind austauschbar, sie sind alle gleich, nicht nur weil sie anonym sind. Wenn Sie "Terroristen" in Google eingeben, sehen Sie eine Parade gesichtsloser Figuren. Sie tragen alle Skimasken.

Terroristen fungieren also als leere Signifikanten für die Prozesse um sie herum?
Ja. Und der Klon ist genauso ein leerer Signifikant. Er ist anonym insofern, als er keine eindeutige Individualität besitzt. Wenn Sie eine Blutprobe des Klons nehmen, ist diese identisch mit den Proben aller anderen Klone.

Ist der Klon ein Bild?
Ja. Er ist das, was man in der Informatik eine tiefe Kopie nennt. Er sieht aus wie das Original und ist auch innerlich gleich. Das ist die Analogie zur digitalen Fotografie: Er hat die Metadaten über seine Geschichte in sich und die Anleitung für seine Replikation.

Mit Ihrem Buch haben Sie eine Geschichte der vergangenen zehn Jahre geschrieben. Wie war es als Bildforscher, die Twin Towers einstürzen zu sehen – hatten Sie gleich eine Theorie zur Hand?
Ich war tatsächlich gezwungen, sofort mit dem Theoretisieren anzufangen, da ich ein Medienseminar am Colorado College gab. Als ich am 11. September 2001 aufwachte, war es wegen des Zeitunterschieds schon passiert. Ich verfolgte mit meiner Frau beim Frühstück, was geschah. Ich sagte, ich muss zum Seminar. Also ging ich hin und sagte den Studenten, wir könnten es ausfallen lassen, wenn sie etwa ihre Familien anrufen wollen. Von achtzehn Studenten gingen einer oder zwei. Die anderen sagten: Wir wollen fernsehen. Also sahen wir den ganzen Tag fern und diskutierten. Das Colorado College ist eine sehr gute liberale Kunstschule mit wunderbaren Studenten. Ihre erste Reaktion war: Das wird in den Krieg führen. Wir werden ein Land im Nahen Osten einnehmen. Am nächsten Tag hielten sie in der Innenstadt von Colorado Springs die erste Anti-Kriegs-Demonstration ab. Sie wurden bespuckt, Leute schrien sie an und warfen mit Sachen nach ihnen, weil das Kriegsfieber bereits im Gang war: Wir müssen jemanden töten, wir müssen bei jemandem einmarschieren, um uns zu rächen. Es gab keine Zeit, das emotional zu verkraften.

Welche Rolle spielten in dieser Stimmung Bilder?
Sie waren absolut zentral, schließlich wurde 9/11 fast ausschließlich durch Bilder rezipiert. Eine ganze Reihe Bilder wurde ikonisch, manche wurden zum Tabu, weil sie zu schockierend waren, wie der aus dem Fenster stürzende Mann.

Ist es eine gute Idee, Bilder zu tabuisieren?
Grundsätzlich bin ich nicht dafür, Bilder zu verbieten. Aber ich verstehe es, es ist nur natürlich. Bilder können schockieren, können uns Dinge zeigen, die wir einfach nicht sehen wollen. Leute sollten sich selbst Zensur auferlegen, wenn es ihnen richtig scheint. Ich bin gegen Staatszensur. Wenn jemand ein Kunstwerk verbieten würde, würde ich es erst recht sehen wollen.

Das Tabu gibt Bildern Macht.
Genau, so wie das fehlende Bild vom Tod Osama bin Ladens dafür sorgt, dass alle es umso dringender sehen wollen.

Was dachten Sie, als Sie hörten, dass es kein Bild von bin Ladens Leiche geben sollte?
Sehr vorhersehbar. Zum einen muss er fürchterlich ausgesehen haben. Sie hatten ihm in den Kopf geschossen, er muss entstellt gewesen sein. Zum anderen war Osama bin Laden ein attraktiver Mann mit Charisma. Seine Selbstrepräsentation beruhte auf Gelassenheit, mit dieser sanften Stimme, die er nie erhob. Er hatte fast eine meditative Wirkung. Das vergrößerte wirklich seine Macht.

Er war in der Lage ein mächtiges Bild von sich zu erzeugen. Und das musste gelöscht werden, weil es nicht passte.
Ja.

Sie haben die Anschläge auf das World Trade Center auf Freuds Beschreibung des Unheimlichen in der Erfahrung der Wiederholung bezogen.
Den ersten Einschlag hat niemand gesehen. Er kam aus dem Nichts. Den zweiten Einschlag sah jeder, und das im Zentrum des globalen Mediensystems. Es war, als würde der Welt ein Pfahl ins Auge gestoßen. Das war vielleicht die schnellste Wiederholung der Geschichte. Normalerweise gibt es Zeit zum Vergessen und Erholen, aber dieses Mal gab es keine Zeit.

Was ist Ihre Aufgabe als Bildkritiker in einer Dekade wie der vergangenen?
Die erste Aufgabe bestand im Sammeln und Archivieren. Ich verschickte Emails an viele Freunde, vor allem Kunsthistoriker: Lasst uns ein Archiv aufbauen, ich teile es gerne mit jedem, der will. Das gleiche mache ich übrigens zur Zeit mit Bildern der Occupy-Bewegung. Als nächstes begann ich zu analysieren, zu kategorisieren, Narrative zu entwickeln und Kontexte herzustellen, die Absichten und Bedeutungen, die die Bilder umgaben. Dann folgte etwas, das ich Andacht nenne: Man meditiert einfach einige Zeit über den Bildern, wie vor einem Fra Angelico, man erlaubt ihnen zu sprechen und sich zu enthüllen. Für mich ist das der wichtigste Schritt. Dabei trat für mich vor allem der Kapuzenmann von Abu Ghraib hervor. Er ähnelt formal christlichen Andachtsbildern. Und er wurde von christlichen Soldaten geschaffen, auf einer heiligen Mission der Vereinigten Staaten, dem Irak Demokratie zu bringen. Der Präsident selbst nannte es anfangs einen Kreuzzug. Es war etwas Mittelalterliches an diesem Bild, die ganze lange Feindschaft zwischen Christentum und Islam schwang darin mit.

Das klingt, als brächte uns die gewachsene Macht des Bildes im digitalen Zeitalter zurück zu archaischen Mustern.
Das tut sie, ja. Dabei bin ich besonders begeistert von der Rückkehr des Mittelalters auf anderer Ebene. Friedrich Kittler schrieb vor einigen Jahren, die Universität trete durch die Digitalisierung in ein neues Mittelalter ein. Die Digitalisierung entspricht strukturell der lateinischen Sprache: Plötzlich gibt es eine internationale Gruppe von Gelehrten. Die Möglichkeiten für das Wissen sind jetzt beispiellos.

Aber hat das einen Effekt auf die gesellschaftliche Realität? Bushs Berater Karl Rove sagte 2004: "Wir schaffen unsere eigene Realität. Und Euch allen wird nur übrig bleiben, zu studieren, was wir tun." Gibt es Möglichkeiten korrigierend einzugreifen, wenn die Politik von der Kontrolle der Realität übergeht zu deren Schöpfung?

Ich denke schon, deshalb glaube ich an die Forschung. Man kann die Wissensressourcen nutzen, um Widerstand zu leisten, Kritik zu üben und an den wahren Kern einer Sache zu kommen. Die Idee, man könne einfach fortdriften und die Realität sei unendlich manipulierbar, das ist eine recht romantische Fantasie. Ich gehöre zur Fraktion der Realitätsbasierten.

Jetzt beschäftigen Sie sich mit der Occupy-Bewegung, vom Tahrir-Platz zum New Yorker Zucotti-Park. Gibt es dort wirklich einen neuen Umgang mit Bildern?
Ich denke schon. Zentral ist natürlich, was Siegfried Kracauer das Ornament der Masse nannte. Für ihn war die Vorstellung einer Masse, die sich um eine Form organisiert, etwas Unheilvolles. Aber Occupy Wall Street folgte keinem Masterplan, sondern war eine organische Gemeinschaft, die sich selbst bildete. Wie auf dem Tahrir-Platz schien es nicht darum zu gehen, ein Spektakel zu produzieren, sondern eine kleine Gesellschaft, mit Ärzten, Lehrern, Journalisten, Handwerkern, Gewerkschaftlern...

Also ging es gar nicht so sehr um Bilder.
Richtig. Oder sagen wir, es ging um eine andere Art Bild. Das eines Zeltlagers, einer Versammlung, und nicht von Leuten, die in die Kamera zum Anführer blicken und in Formation marschieren. Es war ein zentrales Prinzip der Occupy-Bewegungen, dass kein einzelnes Gesicht eines Anführers entsteht. Damit sind sie sehr Anti-Obama. Ich kenne Obama, er kommt aus meiner Nachbarschaft. Bevor er Präsident wurde, aßen wir mit ihm und seiner Familie zu Abend. Ich bin sicher, er sieht diese Bilder und sagt, auch wenn er es nicht laut sagen darf: Das ist, was ich meinte.

Er wollte nie als Einzelner zum Bild werden.
Richtig. Er sagte immer, ich bin ein unbeschriebenes Blatt. Ich bin nur eine Projektion Eurer Wünsche.

Wie der Kapuzenmann.
Ja (schweigt).

Was würde Obama also über die Bilder vom Tahrir-Platz denken?
Oh, ich denke er würde sagen: Hier liegt die authentische Seele der Demokratie. Hier liegt der wahre Ursprung von Handlungsmacht. Leute, die sich mit einem Programm zusammen schließen – auch wenn das Programm nicht annähernd so wichtig ist wie die Versammlung selbst. Ein weiterer Aspekt sind die Bilder von Leuten mit handgemalten Schildern, eine enorme Vielfalt von Stellungnahmen, die nicht unbedingt eine klare Botschaft ergeben. Es ist kein Massenornament, es ist die postmoderne Versammlung. Aber ich fange gerade erst an, das zu durchdenken.

Kracauer sah das Ornament der Masse, das die kapitalistischen Produktivkräfte figurierte, auch als Übergangszustand. Er meinte, der Weg müsse durch das Ornament hindurch führen. Ist das auf dem Tahrir-Platz passiert?
Ich denke ja. Wissen Sie, ich bin ein Kind der Sechziger, und das hier könnte ein ähnlicher Neuanfang werden. Ich hoffe, es wird eine bleibende globale Bewegung.

Sie sind recht optimistisch.
Das muss ich sein.

Es wirkt ein bisschen, als klammerten Sie sich nach der vergangenen Dekade an ein Erholungsprogramm.
Ja. Ich denke, wir sind lange genug in eine schreckliche Richtung gegangen: der Krieg gegen den Terror als Rahmenprogramm für die Realität; die aufgeblasene Wirtschaft, die nur aus Lügen besteht...

Haben Bilder zu viel Macht gegenüber dem geschriebenen Wort gewonnen?
Ich bezweifle das. Das ist eine übliche Klage, die in der Regel zusammen mit düsteren Vorhersagen über den Niedergang der Lesefähigkeit vorgebracht wird, über die Dominanz des Spektakels und Zerstreuung in der Masse. Ich glaube nicht, dass Bilder Analphabetismus befördern. Im Gegenteil, sie können diesen manchmal kompensieren, wie Gemälde und Statuen in mittelalterlichen Kathedralen. Natürlich kommt es sehr darauf an, um welche Art von Bildern es geht – ob man piktorales Fast Food sieht oder beim Betrachten interessanter Bilder betrachtet über sie nachdenkt. Der Fehler liegt darin, Bilder als solche zu beschuldigen, als wäre ihr Verhältnis zu Text ein Nullsummenspiel, in dem die Aufmerksamkeit für das eine immer zulasten des anderen ginge.

Sie haben gestern erzählt, wie Sie vor Irak-Veteranen über Bilder des Kriegs gegen den Terror sprachen. Viele hätten angefangen zu weinen. Das klingt nach einer Therapiestunde. Können Bilder heilen?
Wenn man sie richtig verwendet, ja. Ich denke an ein Foto des Künstlers Hans Haacke, "Star Gazing". Es zeigt einen Kapuzenmann mit der amerikanischen Flagge über dem Kopf. Mit diesem Bild lädt Haacke uns ein, den Blick auf uns selbst zu richten.

Was wäre, wenn wir morgen aufwachten und alle Bilder wären verschwunden?
Das wäre ein toller Ausgangspunkt für eine Kurzgeschichte von Borges oder Kafka: Der Erzähler würde eines Morgens aufwachen und entdecken, dass alle Gemälde weiß wären, nur die Rahmen wären noch da. Am zweiten Tag würde er aufwachen und fest stellen, dass alle Fotos verschwunden wären und sein Familienalbum nur noch aus leeren Blättern bestünde. Am Computer wären alle Fotos von der Festplatte gelöscht und die Google Bildersuche brächte keine Ergebnisse mehr. Am dritten Tag würde der Erzähler den Fernseher anschalten, der Ton ginge noch, aber der Bildschirm wäre blank. Am vierten Tag würden sich alle Filmleinwände leeren. Am fünften Tag würde er ein Buch öffnen und entsetzt fest stellen, dass nicht nur die Bilder verschwunden wären, sondern auch der Text verblasst, schließlich sind alle Buchstaben Bilder. Am sechsten Tag würde der Erzähler etwas noch schrecklicheres erleben: das Verschwinden akustischer Bilder, etwa des Klanges von Vögeln. Wörter würden in weißem, unterschiedslosem Rauschen untergehen. Am siebten Tag würde er aus dem Fenster schauen, doch zu seinem Grauen wäre das Fenster leer. Er hastet zur Tür und betrachtet entsetzt, wie die Formen der Bäume, Wolken, Berge und die gesamte Landschaft langsam verblassen. Seine ganze Vorstellungskraft, akustisch, visuell wie taktil, verschwindet in phosphoreszierender tauber Leere. Es gäbe keine Träume mehr. Und während die letzte Erinnerung aus seinem Bewusstsein schwindet, erinnert er sich vielleicht an eines von Robert Rauschenbergs White Paintings, oder an die weißen Wände einer Kunstgalerie, und wünscht sich, er könnte sich erinnern, wie sie aussahen.

Mit der Ansicht, dass Bilder ein Eigenleben besitzen, wurde William J. Thomas Mitchell zu einem Vordenker der Bildwissenschaften, die sich fach- und medienübergreifend mit der Wirkung von Bildern beschäftigen. Während sein erstes großes Werk "Iconology" in den USA bereits 1986 erschien, dauerte es bis 2008, bis der Suhrkamp-Verlag Mitchells Schriften auf Deutsch herausgab, unter anderem "Das Leben der Bilder: eine Theorie der visuellen Kultur". Unter deutschen Kunstwissenschaftlern haftet Mitchells Ideen, die auf Freud und Marx aufbauen, der Ruf theoretischer Unterbestimmtheit an. In jedem Fall ist der 42-Jährige, der an der University of Chicago lehrt und das Magazin "Critical Inquiry" herausgibt, ein großer Erzähler, dem es tatsächlich gelingt, Bilder sprechen zu lassen, zuletzt die des Terrors in "Das Klonen und der Terror" (Suhrkamp 2011).

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für kunstkritik 2012

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