Wo Tom und Jerry auf Bertolt Brecht treffen

Fliegende Katzen und Drohnen: Die Berliner Kunst-Werke werden zum Zentrum der Diskussionen um "Post Internet Art" – mit einer Ausstellung des US-Künstlers Ryan Trecartin und der Berlin Biennale 2016.

Die Welt, 02. Oktober 2014

Wenn Sie in den Kunst-Werken Ihr Ticket für die Ausstellung von Ryan Trecartin gelöst haben, finden Sie neben der Kasse zwei Vorhänge. Einer führt geradeaus, einer nach rechts. Gehen Sie nach rechts. Sie treten in einen mit Teppich ausgekleideten Raum. Setzen Sie sich in einen der mit Kunstleder bezogenen Polstersessel und senken Sie per Knopfdruck die Lehne nach hinten.

Über Ihnen platzen Synthesizer-Seifenblasen, unter ihnen blubbert der Sessel im Rhythmus der versteppten Bässe. Zu sehen gibt es wenig außer den eigenen hochgestellten Füßen, und so kann man hier schon mal ein Gefühl dafür kriegen, dass in der ersten deutschen Einzelausstellung des gefeierten Videokünstlers Ryan Trecartin aus Los Angeles irgendwie andere Werte herrschen als in anderen Ausstellungen, wenn nicht ein neuer Entwurf des Verhältnisses von Kunst und Welt.

Es scheint zum Beispiel ziemlich egal zu sein, ob hier jetzt fünf Sessel stehen oder dreiundzwanzig, der nächste Raum ist auch mit ihnen vollgestellt. Das wirkt ein bisschen als hätte ein Algorithmus Duchamps Readymade-Konzept mit Elaine Sturtevants Appropriation Art und einem Einrichtungskatalog kombiniert, falsch interpretiert und dann durch den Egal-Modus gejagt.

So gibt sich das untere Geschoss der Kunst-Werke dieser Tage als Mischung aus Saunalandschaft, Flughafenlounge, Zeltlager und Gaming-Konferenz. Die große Halle ist mit einem extra eingezogenen Boden in ein Kino verwandelt, in dem fünf Leinwände verteilt sind wie die Boxen eines Dolby Surround Systems: eine große vorne, zwei schräg an den Seiten, zwei hinten. Man lungert in alten Theatersesseln, Jagdfaltstühlen oder auf einer Campingliege (die Redaktion empfiehlt die Campingliege), und was dann passiert ist nicht so einfach zu erklären. Es rasen softwaregenerierte Raubkatzen mit ständig wechselnden Texturen kreischend über realen Teppichboden, es fliegen softwaregenerierte Vögel kopfüber durch 3D-Architektur, es gibt künstliche Bäume mit Jurassic-Park-Logo und eine Gruppe Anfang 30jähriger, teils mit Jurassic-Park-T-Shirt, teils mit farbigen Kontaktlinsen, meist mit Perücke und aufgeregt auf der Suche nach dem Klo. "Lasst uns diese verdammte Toilette finden, denn ich werde kacken", erklärt eine mollige Frau mit Perücke und Kopflampe.

Das ist Bildhauerin Lizzie Fitch, mit der Ryan Trecartin seit seiner Entdeckung vor zehn Jahren gemeinsam Setdesigns und Videoinstallationen entwickelt. Trecartin selbst gibt mit Kleid, Outdoor-Stiefeln und Regiemappe so etwas wie die Expeditionsleiterin, wobei das Abenteuer zugleich in der Erkundung eines verlassenen Freimaurertempels in Los Angeles besteht wie in deren multiperspektivischer Aufzeichnung durch Handkameras, Kopfkameras und Drohnen. "Blairwitch Project" trifft RuPaul's Drag Race trifft Tom & Jerry trifft John Waters trifft Game of Thrones trifft Bertolt Brecht. Achso, stimmt, eine Leinwand hängt auch an der Decke.

Beim ersten Sehen wirkt das so absorbierend, dass man sich schnell, wie andere Besucher auch, beim SMS-Schreiben wiederfindet. Beim zweiten Mal versteht man die Monologe der Schauspieler immer noch nicht, weil sie sprunghaft geschnitten, beschleunigt und hoch gepitcht sind wie in alten Donald-Duck-Filmen. Und wenn man das blöd finden will, dann sollte man jetzt gehen, es bestehen nämlich Chancen, dass man es beim dritten Mal dann doch irgendwie geil findet.

Seit Ryan Trecartin, 1981 geboren, 2006 auf der New Yorker Whitney Biennale einem breiteren Publikum vorstellig wurde, wird er mit Euphorie überschüttet. Er schien zu bieten, wonach der Betrieb noch nach dem Ende klassischer Avantgarde-Bewegungen hungert: eine neue Bewegung. Eine Kunst, die auf Augenhöhe mit Trash-TV und Internet operiert und deren Folgen für Identität und Gemeinschaft, für Bild und Kunst behandelt. Eine Kunst, an der gerade viele junge Künstler, gerade in Berlin, mehr oder weniger spannend arbeiten und für die sich über die letzten zwei Jahre der Begriff "Post Internet Art" etabliert hat.

Kuratoren, Museumsdirektoren und Sammlerinnen stürzten sich auf den sympathischen jungen Mann, Klaus Biesenbach zeigte ihn mehrmals im MoMA PS1, Massimiliano Gioni überließ ihm und Lizzie Fitch auf der letzten Venedig-Biennale eine Halle. In vier Kojen, die an Hühnergehege und Gartenlauben erinnerten, wurde die Produktion der letzten Jahre vorgestellt, die sich vom auf YouTube verbreiteten Home-Movie zu komplexen High-Budget-Filmen mit mehreren Screens entwickelt hat, auf denen Trecartins Freundeskreis aus Künstlern, Schauspielern und Modedesignern in wilder Kostümierung tautologische Bekenntnisse in die Kamera plärrt. Jeder Film ist aufwändig gescriptet, bezieht seine Stärken aber aus Versprechern und Unfällen in ausgedehnten Drehnächten, die dann mehrfach durch den Fleischwolf der Postproduktion gepresst werden, beschleunigt und abgebremst und von stotternden Dubstep-Sounds umspült.

Schoss früher mal die Sammlerin Ingvild Goetz Mittel für eine Produktion vor, kann Trecartin inzwischen mit Budgets international operierender Galerien wie Regen Projects (Los Angeles), Andreas Rosen (New York) und Sprüth Magers (Berlin, London und bald auch Los Angeles) rechnen, die auch gut Geld in die Berliner Schau pumpten. Für die Neuproduktion "Animation Companion" verlor sich das Team allerdings so sehr in den 30 Soundspuren und der noch zu erlernenden 3D-Animation, dass zur Eröffnung nur ein vorläufiger Schnitt gezeigt werden konnte.

Trecartin ist, was man in der Wirtschaft einen Disruptor nennt, ein Gamechanger. Er legt eine bemerkenswerte Beschleunigung vor, in der viele Regeln der Rezeption nicht mehr gelten, zum Beispiel der Anspruch auf konzeptuelle Strenge. Er wünsche sich, dass seine Filme den Besucher nach dem Sehen begleiteten wie ein Popsong, erklärte Trecartin in "monopol", und das gelingt. Unwillkürlich schießen manchmal Zehn-Sekunden-Songs wie im Film "Comma Boats" (oder war es "Center Jenny"?) in den Kopf: "Do I look goo-hood? Do I, do I look goo-hood?".

Nur ist die Bandbreite der Reaktionen auf Trecartins und Fitchs Arbeit bisher bedenklich eintönig: blinde Begeisterung oder ratlose Ablehnung. Noch fehlen der Kritik die Kategorien. Was wäre eine schlechte Trecartin-Arbeit? Macht es einen Unterschied, ob ein Film fünf Minuten länger oder kürzer ist? Ob es einen Screen mehr, eine Figur weniger gibt? Ob die Badspiegel zertrümmert werden? Oder liegt die Errungenschaft dieser Filme vielleicht darin, dass das keinen so großen Unterschied macht?

Gerade im neuen Film kann man sich schon ärgern über den kindischen Plot und den recht zufällig wirkenden Schnitt. Aber dann entwaffnen gerade scheinbar nebensächliche Einzelheiten, wie der völlig unmotiviert auf der Seitenleinwand eingeblendete Typ mit Vollbart und einer Monstermenge Blau im Gesicht, der im Liegesessel mit Kiffergrinsen in die Kamera starrt wie ein Zerrspiegelbild seines Betrachters.

Gerade dass Trecartin sich nicht lange mit Fragen kritischer Kunsttheorie aufhält, beschert ihm eine beachtliche Hellsichtigkeit für techno-soziale Entwicklungen. Zwar steht sein Werk in der Tradition queerer Travestie, nur zielt die hier weit über Geschlechterrollen hinaus und bezieht auch Mediengeräte und die sozialen Formeln der Selbstvermarktung ein, die unser Verhalten stimulieren.

In diesem Karneval drehen nicht nur die Menschen durch, sondern auch die Geräte, werden Zeichen entkoppelt und freigesetzt, so dass man nach genug Trecartin-Dröhnung kaum noch die hölzernen Inszenierungen von Fernsehreportern und Nachrichtensprecherinnen ernst nehmen kann. Plötzlich sieht alles so witzig aus wie eine Persiflage aus Trecartins Studio, und das ist doch eigentlich ein Zustand der Freiheit, der erlaubt, neu zu denken und zu handeln.

Auch manche Kunstunternehmung sieht gegen Trecartin plötzlich alt aus. Zum Beispiel die letzte Berlin Biennale, die als postkoloniales Proseminar vielleicht vor der Documenta 2002 Sinn ergeben hätte oder vor Baubeginn des peinlichen Stadtschlosses, den sie folgenlos kritisierte. Insofern sind die Biennale-Veranstalter, die Kunst-Werke, zum neuen Kuratorenteam für 2016 zu beglückwünschen, das am Mittwoch ernannt wurde: Das New Yorker Kollektiv DIS ist mit dem Online-Magazin dismagazine.com eine zentrale Stimme im Diskurs um Post Internet Art und neue Selbsttechnologien. Mit Trecartin haben sie auch schon gearbeitet, vor allem online, denn physische Ausstellungen haben sie bislang nur wenige kuratiert. Damit wird die Berlin Biennale 2016 für alle Beteiligten zum Sprung ins Offene, und das ist gut.

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