Wo die wilden Kerle wohnen

Drei Monate lang lebte der Schriftsteller Moritz von Uslar in Brandenburg – und schrieb ein Buch darüber. Ein Fall von Missbrauch? Kolja Reichert ermittelt

Welt am Sonntag, 03. Oktober 2010

Als der Soziologe Loic Wacquant in den Amateurboxclubs Chicagos forschte, war er von seinem Gegenstand bald so fasziniert, dass er kurz davor stand, eine Boxer-Karriere einzuschlagen. Eines Tages erschien sein Lehrer Pierre Bourdieu persönlich in der Umkleide und ermahnte Wacquant, an den Schreibtisch zurückzukehren.

Das Dilemma der teilnehmenden Beobachtung: Wie nah darf ich meinem Gegenstand kommen, um noch davon erzählen zu können?

Auch Moritz von Uslar meldet sich in seinem neuen Buch "Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung" im Boxverein einer Kleinstadt in Brandenburg an. Doch die Gefahr, dass er den Journalismus an den Nagel hängt, besteht nie. Nach ein paar Wochen Training lässt er sich im ersten Probekampf mit wenigen Schlägen zu Boden hauen und vom Gegner grimmig als "Westsau" beschimpfen. Das sind genau die Geschichten, die er sucht.

"Deutschboden" beginnt und endet standesgemäß in einer Champagnerrunde im Berliner "Grill Royal". Ich haue ab von hier, verkündet der Reporter, dort hin, wo kaum ein Mensch je vor uns war - nach Hardrockhausen, Osten ... und nebenbei erfahre ich alles über des Prolls reine Seele, über Hartz IV, Nazirock, Deutschlands beste Biersorten und die Wurzel der Gegenwart.

Wurzel der Gegenwart?

Moritz von Uslar, der Gesellschaftsreporter, Stilkritiker und Schriftsteller, Erfinder der 100-Fragen-Interviews und seit Kurzem "Zeit"-Autor, lebte drei Monate unter Brandenburgern. Da fragen wir doch mal nach, wie die das fanden.

Zum Schutz von Personen wurden Namen und Ortsnamen zum großen Teil verändert und Handlungen, Ereignisse und Situationen modifiziert, aber nicht besonders gründlich. In fünf Minuten Online-Recherche hat man die Zugverbindung raus.

Also auch mal am sozialen Umschlagplatz von "Stadt Oberhavel", dem Tresen der Gaststätte Schröder, die Zeit totschlagen, auch mal die grandios schlauen, anspielungsreichen Sprüche aus nächster Nähe hören und den Bauarbeiter beim dritten Feierabendbier freundlich bitten, die Hände von meinem Hosenbein zu nehmen, wo er gerade ansetzt, mit einem Reißtest den Unterschied zwischen Ost- und West-Jeans zu erklären.

Jetzt kommt der nächste Reporter, der dem ersten hinterherrecherchiert. In Berlin muss es schon ziemlich langweilig sein.

Wirt Heiko Schröder, größter Sympathieträger des Buchs, begrüßt jeden Gast mit Handschlag. Er erinnert sich gerne an den Stadtreporter. Dass das Buch gerade rausgekommen ist, wusste er nicht. Im Buchladen hat man auch nichts gehört. Oberhavel scheint nicht auf den Listen der Verlagsvertreter für Bücher über Oberhavel zu stehen.

Insgesamt, so mein Eindruck, war es eine Kleinstadt wie im Westen, bloß ganz anders - grauer, brauner, fieser, härter, geduckter, hinterrückser, zwielichtiger, gemeiner. Ich fand's gleich so geil hier.

Hardrock-Schweinigel-Assi-Abschaum-Hartz-Höllen-Hausen, wie Uslar die Stadt launisch nennt, erweist sich als harmlose, gemächliche Kleinstadt. Eine solche kann auf reizgeflutete Großstädter leicht eine anziehende Unheimlichkeit entfalten, zumindest bietet sie Platz für Projektionen. Zuvor hat der Autor Schwedt probiert, da war es ihm zu krass. Er will ja weder Ethnograf sein noch Journalist, gezielt geht er dahin, wo die Meinungsforscher noch nicht waren.

Ich war Reporterdarsteller. Mich interessierte eigentlich nichts, das war ja das Geile.

Eine Geschichte über das Nichts, das ist nicht nur eine poetische Idee. Die Arbeit am Nullpunkt der Spektakelgesellschaft ist auch eine vielversprechende Versuchsanordnung für grundlegende Fragen des Reportertums, etwa: Wie berichte ich angemessen vom Fremden?

Uslar hat sich dafür erst mal in Berlin noch einen Hut gekauft, den er angeblich nie absetzt, er ist Pierrot Le Fou-, nicht James-Stewart-in-The Man who Shot Liberty Valance-mäßig gemeint.

Sein Reporter pflegt den Oberflächen-Blick der Pop-Literatur der 90er-Jahre: schreibt Preisschilder mit, sammelt Einrichtungsdetails, lässt sich beim Abhängen an der Aral-Tankstelle die höheren Lehren des Autotunings diktieren. Genüsslich scannt er alles ab, was ihn von denen trennt. Und je mehr freakige, ostige, kaputte Details er sammelt, desto mehr steht die Frage im Raum: Was macht er hier? Erzählt er uns das, weil er es besonders relevant oder weil er es besonders irrelevant findet?

Gerne, Blocky. Das machen wir. Ganz bald mal.

Fallen gute Sprüche, wiederholt Uslar sie gerne und distanziert sich durch übertriebene Zustimmung. Das ist ganz lustig, aber doch nicht so richtig lustig, und auf Dauer schürt die fortwährende Sicherung des letzten Lachers den Wunsch, der Erzähler möge eine irgendwie geartete Haltung zu seinem Gegenstand einnehmen. Immer zwinkert er über seine Gesprächs- und Trinkpartner hinweg den Freunden daheim im "Grill Royal" zu.

Oft stellt Uslar Staunen oder Verunsicherung mit aus. Aber immer ironisch ins Extrem gebürstet.

Interesse: Pose.

Desinteresse: Pose.

Selbstzweifel: Pose.

Angst: Pose Pose Pose.

Es ist ja eine ehrbare Arbeit: Großstadt und Provinz an denselben Tresen bringen, Würde und Lächerlichkeit beider Felder ineinander spiegeln, die Ähnlichkeiten in den Ökonomien von Ehre und Tugend aufzeigen, die die Männergesellschaften konstituieren: hier die richtigen Geschmacksurteile, dort PS und Tätowierungen; und auf beiden Seiten: der gute Spruch im richtigen Moment. Nur dass Uslar die Sprüche der anderen sammelt, um sie, vorteilhaft gerahmt, nach Hause zu bringen. Im Drang zur modischen Distinktion hat Moritz von Uslar den Ossi entdeckt.

Seinen Höhepunkt findet Uslars Anti-Empathie-Programm in den wiederholten lüsternen Bekundungen, die großbusige Kellnerin seiner Pension "Haus Heimat" aufreißen zu wollen.

Maria hat inzwischen gekündigt. Der echte Name des "Haus Heimat" ist noch besser, ansonsten fällt die Realität hinter die Literarisierung zurück. Es war ein Geisterhaus versprochen, wo der grummelige Wirt Wilfried Finster aus der Weite eines düsteren Gastraumes schlurft, ein Bein nachziehend.

Der echte Finster ist ein alter Mann, aber nicht auffallend schlecht zu Fuß, und wenn man freundlich ist, spricht er auch mit einem. Der Reporter sei dagegen recht schweigsam gewesen. "Man wusste nie so recht, was er im Schilde führt." Dass er und seine Frau im Buch vorkommen, ist ihm neu.

Nächtliche Vorlesestunde am Tresen. Anfangs lauschen beide amüsiert, doch bei den Passagen über das "Haus Heimat" gewinnt Frau Finster an Körperspannung in dem Maße, in dem sie bei ihrem Mann abfällt. Die Speisekarte hat weitaus mehr zu bieten als "Topfwurst", die "blutbraunfarbenen Hölzer" sind in Wahrheit Mahagoni. Und die üppigen Kunstblumenkästen, die Uslar an eine gutbürgerliche Stube im Regenwald denken lassen, stammen wie die ganze Einrichtung von einer Firma aus der Partnerstadt Castrop-Rauxel.

Könnte es sein, dass Uslar auf seinem Spezialgebiet, der Beschreibung ästhetischer Details, sehr nachlässig vorging, um eine möglichst krasse Ost-Exotik zu schaffen? Ein Denker geht auf Reisen und sucht den edlen Wilden. Sie waren ihr Ausdruck von Schönheit, philosophiert er über die Tätowierungen der Kleinstadtmänner, ein Beharren auf Schönheit und Würde, die es in ihrem Alltag nicht gab.

Noch die Erhöhung des Gegenübers festigt die privilegierte Position. Ja, Uslar stellt einen eklatanten Berlinozentrismus zur Schau. Und bringt am Ende vor allem sein eigenes Stück zur Aufführung. Frau Finster: "Der soll in seinem Dschungel bleiben." Ein empfindlicher Nerv ist getroffen, er liegt sehr nah an der Wurzel der Gegenwart: "Sobald du nicht mehr so gut funktionierst, wirst du zum Gespött."

Kaffee bei Blocky, eine der Hauptfiguren, "ziemlich dick" (Uslar). Er musste wegen eines Unfalls vom Rettungssanitäter auf Kaufmann umschulen und schreibt gerade Bewerbungen. "Positiv", fand Blocky seine Begegnungen mit Uslar. "Er ist ein guter Zuhörer, als Reporter neugierig. Er hat die Region kennengelernt und die Menschen."

Fühlt er sich verspottet? "Nein. Er muss ja unterhalten, sonst würde das Buch keiner lesen." Blocky lacht beim Lesen.

Reporter erschleicht sich Vertrauen einer Kleinstadt und führt sie hinterrücks vor: So einfach ist es also nicht.

Zurück an der Theke bei Schröder, wo jetzt Vater Hansi Schicht hat. "Moritz hatte einen guten Draht zu allen", sagt er anerkennend. "Er hat sich viel Zeit genommen." Schröder ist eine vornehme Erscheinung in blütenweißem Hemd, ein Wirt aus einem anderen Jahrhundert. Seine gesunde Gesichtshaut hebt ihn von der Kundschaft ab, es ist klar: Er hat die Grundlage seines Geschäfts, den Alkohol, im Griff.

Allmählich erschließt sich die Gerissenheit in Uslars Methodik: Er setzt sich an die Bar. Ohne das Ökosystem der Szenen und Figuren vorschnell aus dem Gleichgewicht zu bringen. Schon lädt Blocky ihn zur Stadtrundfahrt, dann zum Grillabend, wo unter der Deutschlandflagge mit dem Adler salutiert wird.

"Wir haben uns ihm uffjedrängelt", erklärt Raoul, Schlagzeuger der Kleinstadtband 5 Teeth Less. Die Musiker mögen das Buch. Sie wundern sich nur, wie viele Randbemerkungen es hineingeschafft haben. Und der Eindruck, sie würden ständig trinken, sei falsch. Sie tranken, wenn Uslar sie einlud.

5 Teeth Less lieferten mit Freude jede Vorlage. "Irgendwann haben sie nur noch geredet, wenn das Diktiergerät lief", erzählt der Autor auf seiner Buchpremiere im "Grill Royal". Was dem Ethnologen eine verfälschende Versuchsanordnung wäre, ist dem Reporterdarsteller willkommen: Das Geschehen macht sich krasser, als es ohne ihn wäre.

Von Uslar rufe ihn oft an, erzählt Raoul, sie treffen sich manchmal in Berlin. "Der hat sich voll in uns verliebt, der zieht bald her." "Ziemliche Arschgeigen" seien das in der Kleinstadt, erzählt Uslar in der abschließenden Champagnerrunde. "Aber verstehst du, großartige Arschgeigen." Was sagt Crooner dazu, Sänger von 5 Teeth und Bürgermeistersohn? "Wir nennen ihn ja auch Arschgeige."

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für kunstkritik 2012

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