Schrein oder Sein

Ein Rundgang durch das erneuerte Israel Museum in Jerusalem

Der Tagesspiegel, 31. Dezember 2010

Was hat ein dreitausend Jahre altes Kanaaniter-Amulett neben einem Sessel Mies van der Rohes zu suchen? Was ein Chanukkah-Leuchter hinter einem ausgestopften Pfau des Bildhauers Gideon Gechtman? Was eine buddhistische Tanzmaske gegenüber einem Video des aktuell herum gereichten Künstlers Guy-Ben Ner?

Ein grandios dissonanter Eröffnungstusch begrüßt die Besucher im renovierten Israel Museum in Jerusalem. Hunderte Objekte ergießen sich über die ersten drei Räume, über Böden, Wände, Podeste und Vitrinen. Als wäre in den Depots jemand auf den Knopf für den Zufallsmodus gekommen und hätte die ganze Sammlung neu gemischt.

Das Israel Museum, 1965 gegründet, galt mit seinen Sammlungen für Archäologie, Judaica, Ethnologie, klassische Moderne, Design und Gegenwartskunst lange selbst als großes Durcheinander. Nach drei Jahren Generalüberholung öffnete es in diesem Jahr neu, begleitet von einem ungewöhnlichen Ausstellungsprojekt: Drei Künstler durften nach Belieben in den Beständen kramen und je einen Raum einrichten.

Realpoetische Reflexion der Institution und ihrer Geschichte

„Wir wollten den Reichtum unserer Sammlungen zelebrieren“, erklärt Direktor James Snyder. Dabei geschieht unter den Händen von Yinka Shonibare, Zvi Goldman und Susan Hiller zugleich das Gegenteil: Das ganze System Museum mit seinen Mechanismen von Indexierung, Hierarchisierung und Bedeutungsproduktion ist hier zur Disposition gestellt. Zvi Goldsteins Raum ruft die Kuriositätenkabinette der Renaissance-Fürsten auf, Vorläufer des modernen Museums. In gedämpftem Licht reihen sich Kunst-, Kult- und archäologische Objekte an den Wänden aneinander, durchsetzt von Gedichten Goldsteins. Darunter mischt er noch Werkzeuge, die beim Umbau zum Einsatz kamen: Eine realpoetische Reflexion der Institution und ihrer Geschichte.

Museen in ihrer modernen Form sind so alt wie die bürgerliche Gesellschaft. Hier spiegelt und entwirft sie sich selbst, ihre Wurzeln, ihre Vorstellungen von Schönheit und Größe, ihre Herausforderungen und ihre Träume. Die symbolisch-historische Landschaft, die drinnen gezeichnet wird, steht in direkter Wechselwirkung mit der politisch-kulturellen draußen. Dass diese Stätten nicht bloß wissenschaftlichen Zwecken folgen, demonstriert beispielhaft der ebenfalls renovierte „Schrein des Buches“: Unter seiner markanten Kuppel sind die ältesten erhaltenen Bibelrollen, entdeckt während der Gründungsjahre Israels, inszeniert wie in einem Gotteshaus.

Daneben breitet sich ein opulentes Freiluftmodell Jerusalems aus. Vierzig Jahre stand es drei Kilometer entfernt im Holyland Hotel, bevor es 2006 in den Skulpturengarten des Museums gesetzt wurde. Zwei Umgänge mit ständig wechelnden Blickachsen versetzen den Betrachter in das Jerusalem um 70 nach Christus. Der höchste Punkt entspricht der Perspektive vom Ölberg – anstelle des Felsendoms steht noch der Zweite Tempel.

Wie wird hier kulturelle Identität konstruiert?

Für das, was ein Museum macht und kann, ist das Israel Museum ein Ausnahmebeispiel: Steht es doch mitten in den Wurzeln mehrerer Kulturen, aber in einer vergleichsweise jungen Nation. Im Zentrum einer sich ständig verändernden Region behauptet es Kontinuität. Die Frage, die sich in jedem Nationalmuseum stellt, klingt in Israel brisanter als anderswo: Wie wird hier kulturelle Identität konstruiert?

Die Propaganda-Plakate aus der 1906 gegründeten Bezalel-Kunsthochschule, die Yinka Shonibare zeigt, erinnern an die Ursprünge moderner israelischer Kunst, die zunächst im Dienst des zionistischen Projektes stand. In den Jahren der Normalisierung um 1960 setzte sich der künftige Bürgermeister Teddy Kollek für das Nationalmuseum ein. Es würde „Israels Platz auf der internationalen Museumslandkarte sichern“, hoffte die Zeitung „Haaretz“ zur Eröffnung.

Dass „Haaretz“ nun den „Geist von Givat Ram“ feiern konnte, ist neben großzügigen Spendern vor allem James Snyder zu verdanken. Dabei schlug dem damaligen Vizedirektor des MoMA erst Skepsis entgegen, als er 1996 das Direktorenamt übernahm: Der Amerikaner Snyder war noch nie im Israel Museum gewesen und sprach kein Wort Hebräisch. „Inzwischen kann ich Reden halten“, verrät der weißhaarige Herr mit den gestrickten Krawatten und dem Dauerstrahlen eines Impresarios.

Das Museum ist ohnehin eine internationale Institution, getragen von Freundeskreisen in vierzehn Ländern. Nur fünfzehn Prozent kommen vom Staat. Snyder öffnete es weiter, führte Englisch als Teamsprache ein, warb weltweit um Unterstützung, setzte verstärkt auf Zeitgenössisches und initiierte erfolgreiche Wanderausstellungen. Doch zuerst brüskierte James Snyder die Öffentlichkeit, indem er schon bewilligte staatliche Gelder für einen Museumsumbau zurückwies: Die Pläne gingen ihm nicht weit genug. Was das New Yorker Büro von James Carpenter nun zusammen mit Efrat-Kowalsky Architects aus Tel Aviv aus dem acht Hektar großen Campus gemacht hat, sorgte für Begeisterung in der internationalen Presse, von der „Jerusalem Post“ bis zur „Los Angeles Times“.

Zweitausend Jahre Diaspora symbolisch überbrückt

1965 hatten die Architekten Alfred Mansfeld und Dora Gad mit ihren lose dahin gewürfelten Pavillons die modernistische Version eines arabischen Dorfes verwirklicht, eine libertäre Architektur, offen für Veränderung. Ohne viel zusätzlichen Grund zu verbrauchen, wurden nun die Ausstellungsflächen verdoppelt. Ein Großteil der Obergeschosse ist allein der Gegenwart eingeräumt. Die größte Leistung des 100-Millionen-Dollar-Umbaus ist die neue Verschränkung von Innen und Außen; Blenden lassen gebrochenes Sonnenlicht ein, getönte Scheiben gewähren sinnfällige Ausblicke auf die Umgebung. Da steht man vor einem Stein aus dem Haus des Trompeters im Zweiten Tempel, und draußen vor der Scheibe leitet das Kapitell einer Tempelsäule den Blick weiter auf die Knesset. Zweitausend Jahre Diaspora sind symbolisch überbrückt.

Noch graben draußen arabische Arbeiter im Skulpturengarten zwischen Rodin, Claas Oldenburg und Henry Moore die Beete um und pflanzen Olivenbäume. Neue Empfangsgebäude bieten Platz für Restaurant, Shop und Café, und ein überdachter Gang führt in durch Wasserspiele gebrochenem Licht über Terrazzo-Boden trocken und behindertengerecht zum Hauptgebäude. Ein Farbprisma aus 365 Einzelgemälden von Olafur Eliasson leitet am Ende des Gangs um die Ecke. Snyder hat sie eigens in Auftrag gegeben, wie auch Anish Kapoors Spiegelskulptur in Form einer Sanduhr, die am oberen Ende der Carter Promenade den Jerusalemer Himmel auf den Boden bringt und umgekehrt.

"Eines der wenigen wirklichen Universalmuseen weltweit"

Das Gelände ausgerechnet aus den Werkstätten globaler Konsenskünstler zu möblieren, muss man nicht originell finden. Aber es unterstreicht effektvoll den Repräsentationsanspruch des Hauses im Drehkreuz der Weltkulturen. Snyder hat sein Projekt eines globalen Museums zur Vollendung gebracht, das von der Vorzeit in die Gegenwart reicht. „Unsere ältesten Exponate sind eineinhalb Millionen Jahre alt“, sagt er. „Wir sind vielleicht eines der wenigen wirklichen Universalmuseen weltweit.“

Im archäologischen Flügel werden nun jüdische, muslimische und christliche Geschichte eng verwoben erzählt. Auf dem Höhepunkt stehen sich eine Kirche, eine Synagoge und der Gebetsraum einer Moschee in einer Harmonie gegenüber, die es in Wirklichkeit nie gab.

Alle Ausstellungen wurden entschlackt, die Exponate verringert, dafür großzügiger und spannungsreicher präsentiert. Der Flügel für jüdische Kunst und jüdisches Leben ist illustrativer gestaltet als zuvor und bezieht auch Gegenwartskultur ein. Neue Attraktion ist eine rekonstruierte Synagoge aus dem südamerikanischen Suriname mit Sandboden, in der sich sephardische und aschkenasische Elemente mischen.

Die gelockerte Gegenüberstellung teils gegensätzlicher Zusammenhänge ist das Beste, was das neue Museum zu bieten hat. Vom Dadaismus sind es wenige Schritte zur Pop Art, und gerade noch bei den Impressionisten, findet man sich in einem venezianischen Zimmer wieder. Ein Action Painting Jackson Pollocks erfährt eine ironische Brechung durch ein angefügtes Video von Shahar Markus, in dem er Pollocks’ Spritztechnik auf eine überdimensionierte Pizza anwendet.

Vom Rand ins Zentrum gerückt sind die Räume für israelische Kunst, feierlich eingeleitet durch Itzhak Danzigers Figur „Nimrod“ von 1939, eine Ikone israelischen Selbstbewusstseins. Spannend und differenziert sind hier die letzten hundert Jahre erzählt. Doch die Präsentation ist nicht unstrittig. Der Jerusalemer Kunstkritiker Yonatan Amir beklagt bei aller Freude über die Neupräsentation den gewohnten Fokus auf die Kunst weißer, männlicher, säkularer Aschkinazim. Tatsächlich finden sich Sepharden eher bei den Goldschmiedestücken unter den Judaica. Und die Vertretung arabischer Minderheiten ist allein der arrivierten, in London lebenden Palästinenserin Mona Hatoum überlassen.

Das Museum entwickelt die Standards nicht weiter

Mit der dialogischen Präsentation folgt das Museum jüngsten Standards der Ausstellungskonzeption; es entwickelt sie allerdings, was bei dieser Sammlung denkbar wäre, nicht weiter. Eine Institution mit einer stimulierenderen politisch-kulturellen Reibungsfläche ist kaum denkbar. Und wo könnten sich die unlösbaren Widersprüche von draußen offener gegenüber treten als hier, im Kunstraum.

„Wir sind unpolitisch“, sagt James Snyder. Doch schon die Tatsache, dass er darauf hinweisen muss, zeigt, dass die Platzierung von Kunstwerken, zumal in einer Umgebung wie dieser, nie unpolitisch ist.

„Eine so multikulturelle Gesellschaft wie die israelische bräuchte Ansätze, die gängige Einteilungen in alt und modern, in Religion, Kunst und Gesellschaft überwinden“, sagt Yonatan Amir. Stattdessen werde in einer Flughafenhülle die ästhetische Erziehungsanstalt des 19. Jahrhunderts neu gebaut. Tatsächlich erinnert die Einrichtung stellenanweise an einen Duty-Free-Shop. Im Exotisieren von Artefakten gleichen sich Kunst- und Konsumtempel seit den Weltausstellungen.

Die herkulesgroße Skulptur eines afrikanischen Einwandererjungen von Ohad Meromi verabschiedet den Besucher in der oberen Eingangshalle. Werden allerdings gerade zufällig zu seinen Füßen Tische zum Festbankett gedeckt, kann man schon wieder an der Kraft kritischer Kunst im Allgemeinen zweifeln.

In den kommenden Tagen werden die Sonderausstellungen von Shonibare, Goldstein und Hiller abgebaut; der Aufstand der Dinge macht dann wieder der verdaulichen Ordnung seriöser Kunstgeschichte Platz. „Mit diesem Eindruck von Normalität machen wir uns selbst wie den Touristen etwas vor“, sagt Amir.

Aber welches Museum tut das nicht.

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