Schon im Schwarzwald sah er den Ölberg

Ein fehlendes MG, hundert angereiste Sammler und ein Künstler, der gern an fremden Zöpfen zieht: Ein Tag mit Anselm Kiefer in Tel Aviv

Welt am Sonntag, 30. Oktober 2011

Es ist Montagabend Viertel vor acht, als Doron Lurie, Chefkonservator des Tel Aviver Kunstmuseums, aus seinem Chevrolet Malibu steigt und die Stufen auf dem Museumsvorplatz nimmt, in der Hand ein in Stoff gewickeltes Maschinengewehr.

Die Nacht liegt über Tel Aviv, der Platz ist verlassen. Am Vormittag werden sich hier Journalisten aus aller Welt versammeln, zur Presseführung durch den neuen Museumsflügel mit einer Ausstellung von Anselm Kiefer. Alles ist pünktlich aus Kiefers Atelier in Croissy-sur-Seine geliefert worden, die „Frauen der Antike“, bleierne Buchstapel, getünchte Tulpen hinter Glas, großformatige Ölbilder. Nur in der Assemblage „Samson“ fehlte das Maschinengewehr, eine MG-34.

Ironie der Geschichte: Im Zweiten Weltkrieg war die MG-34 eine Waffe der Wehrmacht. 1948 diente sie der Verteidigung des neuen israelischen Staates. Nun war den französischen Behörden die Ausfuhr in den Nahen Osten offenbar zu heikel. Lurie ruft einen befreundeten Sammler an. Ja, er habe eine MG-34. Ja, er sei einverstanden, wenn Anselm Kiefer sie mit Sulfiten bearbeite. Aber auch die israelischen Behörden genehmigen den Transport nicht. Lurie bleibt nur eine Lösung: ein Kindergarten in einer Siedlung in den besetzten Palästinensergebieten, von dem es heißt, dass dort die Kinder mit einem Maschinengewehr spielen, einer russischen Guryanov, auch eine Weltkriegswaffe.

Checkpoint auf Checkpoint passiert Lurie auf dem Rückweg durch die Westbank; doch keiner ist besetzt. Erst auf den letzten Stufen scheint sein Weg zu Ende: eine Polizistin, die das benachbarte Gericht bewacht, leuchtet den kleinen Mann und seine Ladung mit der Taschenlampe an, und lässt ihn passieren. Lurie bringt das Gewehr in die Galerie, Kiefer schreibt „Samson“ drauf, und die Ausstellung ist fertig.

Lurie ist eigentlich Chefkonservator für die Sammlungen des 16. bis 19. Jahrhunderts. Dass er in die Lage kam, eine Kiefer-Show zu verantworten, rührt daher, dass im Juni Direktor Mordechai Omer gestorben ist und ein Nachwuchsproblem hinterlassen hat. Über Monate besuchte ihn Lurie wöchentlich im Krankenhaus und flog stellvertretend zu Kiefer nach Paris. Dann kamen die Assistenten, bauten alles auf, und dann kam Kiefer und hängte alles um. „Mit alten Meistern zu arbeiten ist wesentlich befriedigender als mit lebenden“, zieht Lurie Fazit. „Die beschweren sich nie.“

Am nächsten Vormittag sieht es aus, als hätte die MG schon immer dort gehangen. Aber Kiefers Arbeiten sehen ja immer aus, als hätten sie schon immer irgendwo gehangen. Und mit ihren alttestamentarischen Zitaten passen sie natürlich besonders gut nach Israel, wo alle vergangenen Jahrtausende nebeneinander zu existieren scheinen.

1984 stellte Kiefer zum ersten Mal im Land aus, im Israel Museum in Jerusalem. „Es gab damals von deutscher Seite großen Widerstand“, erzählt er beim gemeinsamen Gang durch die Ausstellung, „die hatten richtig Angst.“ Kampfflugzeuge und Nibelungenzitate in Israel, das war auch schwer einzuordnen. „Es waren jüdische Sammler in New York, die sich in der deutschen Kultur und Geschichte auskannten und verstanden, wie ich es meinte.“ Der Erfolg der einst skandalösen Mythenmalerei von Anselm Kiefer ist also zu guten Teilen eine jüdische Erfindung.

„Vom Fenster des Hauses im Schwarzwald, in dem ich als Katholik aufwuchs, blickte man auf einen Berg, den wir den Ölberg nannten“, erzählt Kiefer in seiner Festrede. „Als ich nach Jerusalem kam, war das wie ein Wiedererkennen.“ Ein Künstlerschicksal in biblischer Landschaft, die Verortung des Alltäglichen im Überzeitlichen.

Wer will, kann auch in den karstigen Farblandschaften der fünf neuen Monumentalgemälde die Geologie des Gelobten Landes wiedererkennen. In Schreibschrift beschworene Namen wie Noah und Ararat bringen die Gesteinsschichten der Geschichte zum Knacken, und die montierten Objekte wie etwa die Kampf-U-Boote klingen fast akustisch nach.

Kiefers Effekte mögen leicht aufschlüsselbar sein, sie funktionieren dennoch prächtig: Größe, Mythen, ins Leere laufende Ordnungen. Mit der Neuproduktion „Shevirat ha Kalim“, die den Bruch der Gefäße mit Glasscheiben und einem altarhaften Bleibuchregal inszeniert, schafft es Kiefer, den sieben Meter hohen, schwer zu bespielenden Ausstellungsraum so zu füllen, wie es nur wenigen gelingen würde.

Dank Kiefer erlebt das 1932 gegründete Tel Aviv Museum of Art das wohl größte Aufgebot seiner Geschichte, mit 150 eingeladenen Journalisten, auch einigen aus den USA, aus Frankreich, England und Deutschland. Zum Vortrag sind Museumsdirektoren aus Paris, St. Petersburg und Wien angereist und über hundert Sammler. Immer ragt über der Menge der Gelehrtenkopf des Malers heraus. Kiefer erzählt von seiner Beschäftigung mit der Kabbala, von Goethes „West-östlichem Divan“, von der Lichtmystik Isaak Lurias, und zwischendurch greift er entzückt nach dem Zopf einer Kollegin: „Oh, das ist ja wunderbar. Da muss ich gleich an Heidi denken.“

Hinter ihm stehen noch mehr Frauen, fünf neue Gipskleidskulpturen aus der Serie „Frauen der Antike“: „Sapho“ mit Büchern anstelle des Kopfes, „Phryne“ mit Ziegelsteinen und die „Schechina“ mit dem Zahlensystem der Kabbala. „Viele Dichterinnen kennt man nur aus den Zitationen von Männern“, erklärt Kiefer, „deshalb habe ich die Köpfe weggelassen.“

Es liegt nahe, dass die biblische Figur des Samson männliche Künstler immer wieder fasziniert. Rembrandt hat ihn mehrmals gemalt, den Israeliten, der wegen einer Hure zu den unterdrückten Philistern nach Gaza ging und, als er um Mitternacht die Stadttore verschlossen fand, einfach mit dem Torbogen auf den Schultern zurück nach Hebron spazierte. Kiefer, der in „Samson“ das in letzter Sekunde ersetzte Maschinengewehr mit zwei Gittertüren und gekreuzten weiß getünchten Palmenzweigen kombiniert, trägt seine Räume gewissermaßen auch mit sich herum. Mit seinem Skulpturenpark im südfranzösischen Barjac hat er eine Landschaft für Giganten geschaffen, und seine Ausstellungen gerieren sich in der Regel autonom gegenüber der Architektur. Am Rest des neu gebauten „Herta und Paul Amir Flügels“ zeigt Kiefer jedenfalls kein übermäßiges Interesse.

Dabei gibt sich der alle Mühe, aufzufallen. In das brutalistische 70er-Jahre-Ensemble von Oper, Bibliothek und Museum hat Architekt Preston Scott Cohen einen Kristall aus Beton schräg aus dem Boden wachsen lassen, mit vielfach gebrochenen Flanken. Cohen selbst beschreibt sein Gebäude so: drei Ebenen, gegeneinander gedreht, in der Mitte verbunden durch einen Lichthof namens „Lightfall“. Man könnte es aber auch als Antwort auf die Preisfrage beschreiben: Wie viele Biegungen, Kanten und Öffnungen lassen sich in einem Gebäude unterbringen?

Das Haus ist als Kunstwerk angekündigt, und tatsächlich ist an einer Ecke eine Absperrung vonnöten, um den Besucher vor gefährlich ausragenden Kanten zu schützen. Und manches Gemälde hat Schwierigkeiten, sich den gekurvten Wänden anzuschmiegen.

Das Gebäude zielt ganz klar auf die Landkarte des globalen Kulturtourismus, es soll internationale Besucher locken, die alleine wegen der Sammlungen nicht kommen würden. Museumskultur basiert in Israel wie in den USA auf privater Initiative, nur ein Drittel der Mittel kommt vom Staat. So sind die Flügel nach Sammlern sortiert statt nach kuratorischen Interessen, in den alten Räumen ist das Licht schlecht, und die Wände könnten mal wieder gestrichen werden. Auch die Wechselausstellungen, oft auf private Leihgaben angewiesen, sind von fragwürdiger Qualität.

Der Neubau war Anlass für Kritik seitens der lebendigen Tel Aviver Kunstszene an der Museumspolitik: Direktor Mordechai Omer habe sechzehn Jahre im Interesse von Sammlern gewirtschaftet und die lokale Produktion vernachlässigt. Die Sammlung israelischer Kunst, die im neuen Flügel nach Jahren erstmals Platz hat, bleibt im Zeitgenössischen dann auch hinter dem Niveau der regionalen Produktion zurück.

Kiefer schwärmt von der Zusammenarbeit mit dem verstorbenen Omer: „Es gibt selten einen Museumsdirektor, der alles mitmacht. Der hat gesagt: Der Künstler hat immer recht. Und das ist natürlich richtig.“

Im Vortrag und in den Interviews beschwört Kiefer dann die Wiederherstellung der Einheit zwischen den Kulturen. Dabei bezieht er sich auf den jüdischen Religionshistoriker Gershom Scholem, der allerdings die Annäherung deutscher und jüdischer Kultur nach dem Holocaust als scheinheiliges Versprechen beschrieb. Wie Vereinigungswünsche aus dem Mund eines Privilegierten grundsätzlich der Vereinnahmung verdächtig sind. In Kiefers Schmetterlingssammlung aus kulturellen Bezügen ist die jüdische Lehre jedenfalls eine Beigabe, die sie nicht notwendig braucht.

Zwei von Kiefers Materialien kommen in der Ausstellung nicht vor, auch wenn sie die israelisch-palästinensische Gegenwart bestimmen: Beton und Stacheldraht. Kiefer hat selbst noch keinen Checkpoint passiert, er ist in die Wüste gereist. Israel ist für ihn wie für die meisten Reisenden ein mythischer Selbstbedienungsladen. In Kiefers Worten: „Ich bin kein politischer Künstler. Ich versuche, das alles in einen größeren Zusammenhang zu stellen.“

Vielleicht, der Gedanke muss erlaubt sein, arbeitet Kiefer weniger, wie er behauptet, an der Annäherung an unergründliche Wahrheiten, vielleicht bringt er eigentlich verständliche Dinge auf mystische Distanz. Vielleicht arbeitet er nicht an Erkenntnis des Unerkennbaren, sondern an der Verunkenntlichung des Erkennbaren. Und so wird dann ein russisches Maschinengewehr aus einem Kindergarten radikaler Siedler zum Potenzsymbol eines Giganten aus biblischer Vorzeit.

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