Schallplatte gegen Erdplatte

Der Rumäne Dan Mihaltianu bringt Geologie und Gesellschaftskritik zusammen. Eine Ausstellung im Haus der Kulturen

Der Tagesspiegel, 30. Mai 2010

Stück für Stück treiben die Kontinentalplatten Nordamerikas und Eurasiens auseinander, jedes Jahr um zwei Zentimeter. Währenddessen rollen in den großen Städten Revolutionen an, werden Herrscher gestürzt, pochen Generationen auf ihr Recht in der Geschichte.

Fünfundvierzig Mal pro Minute dreht sich die alte Vinylsingle auf dem Plattenteller. Stars und Stile lösen sich ab, tragen Botschaften über Grenzen hinweg, auf den Tanzflächen formen sich Bündnisse für eine Nacht oder für Tage hinter Barrikaden.

Die Umwälzungen der Erdoberfläche und die von Gesellschaften – in Dan Mihaltianus Sicht gehören sie zusammen. „Die Plattentektonik beeinflusst den Menschen und sein Verhalten“, sagt der Künstler und zeigt dabei die selbst gegossene Kunststoffkopie einer Schallplatte.

Die Schallplatte und die Erdplatten – eine feine Analogie. Gestern eröffnete das Haus der Kulturen Mihaltianus Ausstellung „Plaques Tournantes“.

Der 1954 geborene Mihaltianu hat so manchen historischen Wendepunkt selbst erlebt: Er studierte vor 30 Jahren im Rumänien Nicolae Ceausescus und verfolgte den Niedergang des totalitären Systems wie die chaotischen Folgen. Mit Studios in Bukarest, Bergen und Berlin und wechselnden Lehraufträgen lebt Mihaltianu bis heute in verschiedenen kulturellen Sphären zugleich, wie er betont. Er gehört zur großen Zahl wichtiger Künstler, die in Berlin arbeiten, aber kaum bekannt sind – seine letzte Berliner Einzelausstellung war 1993 im Künstlerhaus Bethanien. Häufiger tritt er als Kurator in Erscheinung, wie mit „Social Cooking Romania“ 2007 in der NGBK. Nun eröffnet Mihaltianu die Reihe „Labor Berlin“, in der HKW-Kuratorin Valerie Smith im Wechsel mit Daniela Wolf jedes Jahr sechs Künstler vorstellt, die sonst unterrepräsentiert sind.

Zwei Tage vor der Eröffnung. Der Künstler passt an einem Leuchtkasten ein Stück Metall an, bevor er sich dem Gast zuwendet. Der Kasten ist einer Jukebox nachempfunden, von der Scheibe strahlen Drafi Deutscher, Patrick Juvet, Rockstars und Schlagersänger der Sechziger aus Rumänien und Norwegen. „Die Cover stammen aus meiner persönlichen Sammlung“, erklärt Mihaltianu. Er sammelt, seit er zehn ist. Aus dem Lautsprecher tönen die Stücke in kurzen Samples. Die Abfolge erscheint im Rahmen der Ausstellung als eigene Pressung.

Daneben eine weitere Jukebox-Replik. Sie zeigt Fotos politischer Kämpfe der vergangenen Jahrzehnte: Pariser Straßenschlachten, die Stille Revolution von Québec, Demos in Ostberlin. Es erklingen Feldaufnahmen und Radiomitschnitte. Die meisten hat Mihaltianu selbst gemacht, wie im Dezember 1989: „Ich spürte, dass etwas Wichtiges bevorstand, das ich einfangen musste.“ Tagelang schnitt er das Staatsradio mit und streifte mit dem Aufnahmegerät durch Bukarest, ein Nüchterner im großen Wahnsinn, der in der Erschießung des Diktators erst den Anfang nahm. „Alle waren aufgestachelt und redeten von Terroristen. Es ist bis heute nicht erklärt, was damals geschah“, sagt Mihaltianu. Schon die Hinrichtung Ceausescus kam ihm bizarr vor: „Die Mauer war gefallen, die Umwälzung war im Gang, es war klar, dass er abtreten muss.“ Doch das konnte so deutlich vielleicht nur sehen, wer Distanz und ein Sensorium für die untergründig wirkenden Dynamiken bewahrte.

Gegenüber den Jukebox-Kästen laufen Bilder politischer und kultureller Ereignisse nebeneinander ab: ein ungarisches Mädchen beim Volksaufstand; Yoko Ono und John Lennon bei Kanadas Premier Pierre Trudeau. Die Kombinationen sind zu-, doch immer sinnfällig, Mihaltianu arbeitete über Jahre an der Bildauswahl.

Wie ein DJ blendet der Künstler hier das Kulturelle und das Politische ineinander, zeigt ihre Verwicklung und lockert zugleich die chronologische Zwangsläufigkeit, die Geschichtsschreibung gerne suggeriert. Geschichte als Funkenschlag rotierender Bewegungen: „Die Balance aus Anziehungs- und Fliehkräften, der Austausch von Zentrum und Peripherie, war schon immer der Motor sozialen und kulturellen Lebens“, sagt Mihaltianu. Wenn er jene Dynamiken beschreibt, vollführt er tatsächlich die Handbewegungen eines DJs, der zwei Platten kontrolliert. Er muss schmunzeln. Sonst zeigt er sich geradezu unterspannt, ein gedrungener Mann mit jungenhaftem Bob über der Hornbrille. Seine Sätze sind lakonisch, so wie auch seine Kunst nie zu abgeschlossenen Gesten gerinnt.

Mihaltianu steht für eine Kunstrichtung, wie sie nach den medienwirksamen Positionen der Neunziger- und Nullerjahre nun wiederentdeckt wird: Ephemere Arbeiten mit einfachen Materialien, die sich nicht als Artefakte zur Wertsteigerung empfehlen. Unter dem Ceausescu-Regime war die Arbeit ohne Budget Notwendigkeit. „Da beweist sich der künstlerische Instinkt, der einen zum Schaffen treibt“, sagt Mihaltianu. „Heute beginnen Künstler erst zu produzieren, sobald sie ein Budget haben.“

Mihaltianus innere Scheibe dreht sich indes unabhängig vom Kunstbetrieb. Zurzeit befragt er seine Arbeiten aus den Siebzigern und frühen Achtzigern auf ihre Aktualität. Letztes Jahr zeigte er in Toronto einen Wodka-Pool, wenige Zentimeter hoch, prekär in Form gehalten von PVC-Folie und Dichtungsschaum, erinnernd an das Tauschmittel Alkohol im Realsozialismus und die Verflüssigung sozialer Strukturen in der Moderne.

Ähnlich wie bei seinem bekannteren Landsmann Ion Grigorescu, der im Juni bei der Berlin Biennale und in der Galerie Gregor Podnar ausstellen wird, ist Mihaltianus Kunst existenziell mit dem Leben verflochten. Sie schöpft aus persönlicher Erfahrung und fragt nach der Verortung des Einzelnen in der Geschichte.

Letztlich findet sich in seiner Installation der Besucher selbst im Zentrum. Auf dem Schreibtisch des Künstlers liegen Singles bereit und ein alter Plattenspieler. „Ich wünsche mir“, sagt Mihaltianu zum Abschied, „dass jemand meine Arbeit versteht, ohne mit mir darüber zu sprechen. Vielleicht sogar noch besser.“

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