Nackt auf dem Sockel

Pinsel zu Stricknadeln: Die Ausstellung "New Omega Workshops" bei September bügelt über die Grenzen zwischen freier und angewandter Kunst

Der Tagesspiegel, 29. August 2009

Tja, wo soll man da anfangen? Bei Ogar Grafes Plastiktotenköpfen mit Häkelüberzügen? Bei Käthe Kruses indianisch anmutenden Wollzotteln? Bei den Batiktüchern, die sich wie Nachbilder von Urknall-Szenen über die Wände spannen? Oder mit der kitschverliebten Wohnzimmereinrichtung von Reinhard Wilhelmi, dem Betreiber des „Kumpelnest 3000“? Zur Eröffnung der Ausstellung stand er nackt auf einem Sockel, als lebende Skulptur, und betrachtete von oben das Treiben, während sich auf seinem Plattenspieler Scheiben von Prokofjew und der ungarischen Rockband Omega drehten. Die wilden Achtziger, sie sind zurück.

Die Ausstellung „New Omega Workshops“ in der Galerie September ist ein Schlag ins Gesicht des seriösen Kunstbetriebs. Ein wildes Durcheinander aus high and low, aus Kunst und Kunsthandwerk. Ein Camp-Karneval, der die gewohnten Kategorien durchrüttelt. 29 Künstler hat Oliver Koerner von Gustorf auf seine 140 m² Schaufläche geladen. Der Kritiker, der vor zwei Jahren zum Galeristen wurde, beweist hier heiter seine Unabhängigkeit. Diese kuratorische Geste ist selbst Kunst. Historische Vorlage sind die Omega Workshops, die der Maler und Kritiker Roger Fry, aus der Bloomsbury Group um Virgina Wolf, 1913 gründete. Angeregt von der Wiener Werkstätte, ergingen sich bildende Künstler im Kunsthandwerk und verkauften Teppiche, Möbel, Kleidung, Keramik und bemalte Paravents. Die Grenzüberschreitung traf auf geteiltes Echo. „Frys Vorhang- und Nadelkissenfabrik“, schimpfte der Künstler Wyndham Lewis, „eklig, anämisch, amateurhaft“. Sechs Jahre später war das Experiment zu Ende.

Koerner von Gustorf spielte schon 1987 mit dem Vorbild, als er sich mit Ogar Grafe als Künstlerduo „Louvre Boutique“ nannte. Nun, da die Annäherung von freier und angewandter Kunst in aller Munde ist, in Venedig Möbelkunst gewürdigt wurde und in der Bauhaus-Ausstellung die Lebensreform durch Kunst, war die Zeit reif für das ungewöhnliche Projekt. Im Gespräch mit Künstlern aus dem Galerieumfeld stellte sich heraus, dass mancher heimlich bastelt und strickt. Ursula Döbereiner stickte für die Ausstellung Servietten (je 3000 Euro), Nada Sebestyén baute einen Tisch und steuerte handgefertigte Vasen bei (600–900 Euro). Palbo Zuleta Zahr schweißte eine surrealistisch-rustikale Wanduhr aus Alu (4500 Euro). Jérôme Chazeix faltete einen trashig-protzigen Paravent mit Waben aus Goldpapier. Und Grafe bemalte Teller, die mit Preisen von 70 Euro ernst machen mit dem Verzicht auf auratische Aufwertungsstrategien.

Denn darum geht es doch meist bei der beschworenen Annäherung von Kunst, Design und Mode: Unter dem Versprechen von Lebensnähe und Nützlichkeit genießt angewandte Kunst die Musealisierung; und freie Kunst macht sich neu interessant. Günstiger wird dadurch nichts, am System wird kaum gerüttelt. Schon Frys Omega Workshops bastelten nicht fürs Volk, sondern für Bohemians aus der Upper Class. Umso erfrischender ist diese grandiose Anti-White-Cube-Ausstellung. Am Boden stehen edle Stuhlarbeiten von Bettina Allamoda, an der Wand hängen gestickte Wimpel der verstorbenen Aktivistin Helga Goetze („Rettet den Sex!“). Und auf einem Wandbord liegt die gefaltete Haut einer Klapperschlange vom aufstrebenden Philip Wiegard (Edition 5, je 1900 Euro), ein hinreißender Gruß an die Kolonialzeit. Kunstwille, Politik, Alltag und Selbstausdruck prallen aufeinander, schlagen Funken, erhellen sich gegenseitig. Sammler zeigen sich angeblich begeistert, doch was man hier warum für wie viel kaufen soll, ist nicht immer ganz klar. Wunderbar.

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