Lebkuchen für Gerhard Richter

Auf Heimat-Tournee: Ein Wochenende mit Deutschlands berühmtestem Maler, zwischen Albertinum-Eröffnung in Dresden und der Dorfkirche von Pulsnitz

Die Welt, 22. Juni 2010

Die Rednerliste ist lang bei der Neueröffnung des Dresdner Albertinums am Samstagnachmittag. Lang die Liste der Ehrengäste, lang die Liste der Danksagungen. Elfmal fällt der Name Gerhard Richter. Doch sein Platz und der seiner Frau in der zweiten Reihe sind leer. Kopfschmerzen, erzählt man sich.

Dass das Albertinum nun in neuem Glanz erstrahlt, ist unter anderem Gerhard Richter zu verdanken. Als erster Künstler spendete er nach der Elbflut 2002 für die Benefizauktion von Kunstberater Helge Achenbach. Sein "Fels" erlöste 2,6 Millionen Euro, der höchste Preis, der bis dahin für ein abstraktes Gemälde gezahlt worden war.

Doch als der Generaldirektor der Staatlichen Kunstsammlungen Martin Roth und Ministerpräsident Tillich das Band durchschneiden, ist Richter nicht zu sehen. Kein Blitzlichtgewitter, kein Händeschütteln, keine Interviews vor laufenden Kameras. Erst als alle Reden gehalten sind, zeigt er sich im Hintergrund. Was kaum einer weiß: Der Höhepunkt von Gerhard Richters Wochenende kommt erst noch.

Auch für einen anderen ist dieses Wochenende ein besonderes: Helmut Heinze, Dresdner Bildhauer, Jahrgang 1932, wie Richter. Sie kennen sich seit dem Studium, damals diskutierten sie viel, wie es nach 1945 weitergehen könnte mit der Kunst. Der eine machte rüber, ließ die Vergangenheit zurück und wurde zum teuersten Künstler Deutschlands, viele sagen: dem wichtigsten Maler der Gegenwart. Der andere blieb, wurde Professor für Plastik an der HfbK, plante nach der Wende den Wiederaufbau der Frauenkirche mit. In der Skulpturensammlung des Albertinums steht jetzt auch, zwischen Rodin und Tony Cragg, Helmut Heinzes "Stehender Knabe" von 1974.

Die Studienfreunde blieben sich verbunden, schrieben sich Postkarten. Jetzt, 78jährig, feiern die beiden ihr erstes gemeinsames Projekt: eine nahezu geheime Richter-Ausstellung in einem Dorf in der Oberlausitz. Ja, hatte Richter vergangenen Dezember am Telefon gesagt, das sei eine schöne Idee: eine kleine Parallelausstellung zur Eröffnung des Albertinums. Das hätte er früher nicht gemacht.

Sonntag nachmittag um zwei, Abfahrt mit vier Limousinen vom Sheraton Königshof. Es ist eine halbe Stunde bis Pulsnitz, bekannt weniger für Kunst als für seine Pfefferkuchenbäckereien. Sanft schmiegt sich der Ort an den Hügel, überragt vom gelb getünchten Kirchturm. Der lautsprecherverstärkte Trubel vom Vorabend ist vergessen im Vogelgezwitscher und dem Klacken beschwingter Schritte auf Kopfsteinpflaster.

So aufgeregt dürfte man Gerhard Richter lange nicht gesehen haben.

Das Verhältnis des Malers zur Heimat blieb noch nach der Wende distanziert. Es war die Elbflut, die ihn wieder näher an seine Geburtsstadt Dresden brachte. Doch Dresden ist immer auch Kunstbetrieb. Heute unternimmt Richter vielleicht den größeren Schritt. Eine Stunde von hier liegt Waltersdorf, wo "Gerd" das Ende des Kriegs erlebte und sich später mit Malen und Zeichnen aus den engen Verhältnissen half. Wenn er heute nach sechzig Jahren seine Kunst hierher bringt, stellt das die wirkliche Rückkehr dar.

Es müssen seltsame Tage sein für Gerhard Richter. Zwei sehr unterschiedliche Ausstellungseröffnungen direkt aufeinander, und am nächsten Tag zur Trauerfeier: Mit Sigmar Polke hat Richter den letzten seiner engen Weggefährten aus Düsseldorf verloren. In solchen Momenten regt sich meist die Frage: Was bleibt?

Auf der Dorfstraße stolpern sie sich regelrecht in die Arme, Richter in anthrazitfarbenem Sakko über hellblauem Hemd, Heinze in Cordjackett und Krawatte. "Es ist so schön dass du gekommen bist, vielen Dank!", strahlt Heinze, während er dem alten Freund beide Hände drückt.

Dem scheinen die Worte zu fehlen, er lacht nur, blickt unsicher in die Runde. Die Welt, in der er seit fünfzig Jahren unterwegs ist, verlangt einem Star Coolness ab, es gibt für jede Situation das richtige Verhalten. Hier wirkt der Künstler geradezu orientierungslos, etwas löst sich in ihm, er scheint es selbst noch nicht ganz zu verstehen.

Also schnell nach drinnen, in das Geburtshaus Ernst Rietschels, spätklassizistischer Bildhauer, neunzehntes Jahrhundert. Hier veranstaltet der Ernst-Rietschel-Kulturkreis, nach der Wende von Bürgerrechtlern gegründet, Ausstellungen, vergibt den Rietschel-Preis - und betreibt das Museum Pfefferkuchen-Schauwerkstatt gleich gegenüber.

Zwei niedrige Geschosse mit Dielenboden, verbunden durch eine enge Steintreppe. Heinze ist sichtbar besorgt, es dem Freund Recht zu machen. "Wir haben alles gehängt wie mit dir abgesprochen." Im Erdgeschoss: die 31 Elbe-Drucke von 1957, die Richter einst bei einem Freund zurückgelassen hatte. Es sind Zufallsarbeiten mit Gummiwalze, frühe Vorboten der abstrakten Malereien. "40.000" schwarz-weiße Quadrate von 1974. Eine Fotografie der abgemalten Fotografie "Onkel Rudi". Ein Druck der "Umwandlung", die 1968 mit Sigmar Polke entstand.

Es ist eine zugleich bescheidene und erlesene Ausstellung. Als sähe man Richters Schaffen einmal von der Rückseite. Die Lampen hängen tief von der niedrigen Decke, erinnern an die Deckenbeleuchtung einer Sparkassenfiliale. "Wir mussten die übermalten Fotografien deswegen fünf Zentimeter tiefer hängen", entschuldigt sich Heinze. Richter winkt ab.

Die ersten Autogrammjäger haben ins Haus gefunden, halten ehrfurchtsvoll ihre Kataloge hin. "Darf ich herzlich bitten, Herr Richter..." Der zeichnet geduldig ab, dann wendet er sich zur Treppe, er will jetzt rüber zur Eröffnungsfeier in der Kirche.

Vor der Haustür haben sich schon zwei Dutzend Schaulustige versammelt. Das Ehepaar Goldberg-Holz ist darunter, angereist aus Waltersdorf. Sie haben noch Negative von Fotos, die Richter später nachmalte, erzählen sie. "Wir haben immer wieder geschrieben. Zehn Briefe insgesamt." Einmal kam sogar eine Antwort. Frau Goldberg-Holz holt einen Tintenstrahlausdruck aus der Handtasche: Sie vor dem Sicherheitstor neben der bunkerhaften Wand von Gerhard Richters Haus.

Sie haben seinen Aufstieg wachsam verfolgt in Waltersdorf. Die, die zurück bleiben, messen die Wege derer, die ausziehen, immer vom eigenen Ort. So spricht heute aus den ernsten Blicken der Anwesenden ein gewisser Stolz: Er ist da wo er hingehört. Einer von uns.

Welche Eröffnung ist feierlicher, Herr Richter, die des Albertinums oder diese hier? "Hier."

Der Zug, der sich jetzt Richtung Kirche in Bewegung setzt, diese ungewöhnliche Mischung aus Kunstbetriebsvertretern und Dorfanwohnern, vorne raus die beiden Künstler, der eine glücklich, der andere etwas desorientiert, lässt unwillkürlich an eine Hochzeit denken. Richter lacht auf, als er den Vergleich hört, hakt sich bei seinem alten Freund unter, und die beiden tänzeln Richtung Kirche.

Das Kirchenschiff ist bereits bis in die letzte Bank gefüllt, an die dreihundert Menschen, so voll dürfte kein Gottesdienst sein. Die Gäste sind aus Dresden angereist, aus Waltersdorf, aus Düsseldorf, ein Galerist aus Tokio ist auch da. Generaldirektor Martin Roth kommt etwas später, er hat seinen VW-Bus genommen. Gestern stand er am längsten am Podium, sprach sichtlich bewegt über die traumatischen Flut-Tage vom August 2002. Heute sitzt er in der letzten Reihe.

Im Albertinum tanzte das Ballett der Semperoper zu einer Choreographie von William Forsythe, eine abgezirkelte Pflichtdarbietung vor 3500 geladenen Gästen. Heute gibt Thomas Meining, erster Geiger der Staatskapelle Dresden, solo hinreißende Bach-Suiten vor dem etwas pompös geratenen Altar.

Die Vorsitzende des Ernst-Rietschel-Kulturkreises, Sabine Schubert, begrüßt Gerhard Richter als "in gewisser Weise ein Sohn der Lausitz", bevor sie das Wort an Dr. Helmut Heinze gibt. Als Rietschel-Kreis-Förderer hat er schon öfter zur Eröffnung gesprochen, aber heute ist es etwas besonderes. Immer wieder überschlägt sich seine Stimme, brechen Aufregung und Rührung aus ihm heraus, als er akribisch den Hergang der Vorbereitungen erklärt und Bezüge von den gezeigten Arbeiten auf das Gesamtwerk aufzeigt, zum "Fels" oder zum Kirchenfenster im Kölner Dom.

"Immer hat er das Banale in der Zeitgeschichte gesucht", erklärt Heinze, und dehnt dabei das "a" in "banal" so weit, wie er seinen Oberkörper Richtung Pultkante beugt. Sein Vortrag endet mit einem Satz, den sein Freund einmal zu ihm gesagt hat: "Gegen große Vorzüge des anderen gibt es kein anderes Rettungsmittel als die Liebe."

Applaus. Richter empfängt den Redner stehend in der Kirchenbank, drückt ihm einen Kuss auf die Wange. Heinze lässt seine Hand gar nicht mehr los, und die allgemeine Rührung mündet in ein ausgedehntes Handlungsloch.

Ach ja, die Lebkuchen! Sabine Schubert holt die Pakete. Der Violinist bekommt eins, der Professor aus Dresden und zuletzt - der Ehrengast. Gerhard Richter nimmt die Pulsnitzer Lebkuchen mit beiden Händen entgegen, steht auf, dreht sich zur Gemeinde und stemmt sie unter Applaus feierlich in die Höhe. Wie eine Trophäe.

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für kunstkritik 2012

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