„Künstler hören nicht auf. Sie sterben“

Christo war in Berlin, 15 Jahre nach der spektakulären Verhüllung des Reichstages. Im Laden des Taschen-Verlags präsentierte er das letzte Werk, das er gemeinsam mit seiner kürzlich verstorbenen Frau Jeanne-Claude realisiert hat. Im Interview sprach er mit Monopol über ihr Vermächtnis, anstehende Projekte und über seine Gleichgültigkeit gegenüber aktueller Kunst

monopol, 20. September 2010

„Christo and Jeanne-Claude“ im Taschen-Verlag, ein Monument aus 754 Seiten, gebunden in Sackleinen, limitiert auf 1000 Stück. Der Künstler signiert geduldig. Nur wer noch schnell ein Stück Papier organisiert hat, um ein Autogramm zu erhaschen, wird abgespeist, mit einer vorsignierten Autogrammkarte aus der Jackentasche.

Christo, mögen Sie Autogrammstunden?
Das gehört dazu. Wir haben so wenig Zeit für unsere Kunst, da sind diese Termine etwas besonderes.

Wie kam es zu dem Buch?
Es gab schon viele Bücher über unsere großen Projekte, aber nur wenige, die alles umfassten. 2008 hatten wir die Idee für ein allgemeines Buch. Jeanne-Claude sagte, ein Katalog sei zu anstrengend: Wer sollte das lesen. Es wäre viel interessanter, ein Buch zu machen, das viele Projekte und ausgedehntes Bildmaterial enthält. Im Dezember 2008 räumte ich dann mein Studio von aller Arbeit frei, breitete ein großes weißes Papier aus und begann darauf hunderte Fotografien anzuordnen, von 1960 bis heute. Wir haben über 2000 Reproduktionen. Bis Juni 2009 arbeitete ich an nichts anderem als an diesem Buch.

Wie viele Assistenten beschäftigen Sie?
Ich mache alle Arbeit alleine, aber Jeanne-Claude hatte drei Assistenten, mein Neffe Vladimir Yavachev, Jeanne-Claudes Neffe Jonathan Henry und Adam Blackborne, der Neffe von jemand anderem. Jeanne-Claude und Jonathan Henry arbeiteten daran, diese hunderte Seiten Text zu den Fotografien zu schreiben. All das geschah zwischen Juni und September 2009. Als Jeanne-Claude starb, war das ganze Material bereits beim Verlag. Das war großes Glück, wäre das Unglück früher passiert, wäre das Buch nie zustande gekommen. Das Interview mit Paul Goldberger entstand nur zwei Wochen bevor Jeanne-Claude starb.

Pulitzer-Preisträger Paul Goldberger ist Architekturkritiker. Haben Sie sich mit Absicht gegen einen Kunsthistoriker entschieden?
Unsere Bücher haben normalerweise mehrere Texte von Kunstautoren, was manchmal sehr ermüdend ist. 1995, als wir den Reichstag verhüllten, schickte die "New York Times" zwei Autoren, um darüber zu schreiben. Einer war Peter Goldberger. Wir kennen ihn seit vielen Jahren und wurden enge Freunde. Seine Sicht auf unsere Projekte ist nicht vereinfachend wie bei vielen Kunsthistorikern, die nur an Malerei und Bildhauerei geschult sind. Für unser Buch wollten wir auch jemanden, der darüber hinausdenkt. Sein Essay heißt „Die Kunst des Realen“, weil wir mit echten Dingen umgehen, mit echten Buchten, echten Hügeln, dem echten Reichstag, weil wir nicht nur Dinge illustrieren, wie es Kunst üblicherweise macht.

Das war vielleicht vor 50 Jahren die Regel. Es gibt doch heute durchaus interessante Künstler, die die Grenze zwischen Kunstraum und öffentlichem Raum überspielen. Verfolgen Sie die Arbeit jüngerer Generationen?
Sehen Sie, als Jeanne-Claude und ich jung waren, haben wir viele Ausstellungen von vielen Künstlern gesehen, aber wir sind jetzt 75, wir stecken all unsere Energie in unsere Kunst. All unsere Aufmerksamkeit gilt jetzt unserer Arbeit.

Sie sehen gar keine Kunstausstellungen, waren auf keiner Biennale der letzten Jahre?
Wie soll ich es erklären. Unsere Arbeit ist so komplex und hat so wenig mit der Kunstwelt gemeinsam. Das Allerschwierigste ist, Genehmigungen zu bekommen. Wir haben so viel zu tun mit echter Politik, echten Regierungen, Senatoren, Kongressabgeordneten und allem möglichen, gerade jetzt für unser nächstes Projekt „Over The River“.

Die Idee dazu hatten Sie 1992. Sie wollen 9,4 Kilometer des Arkansas River in Colorado mit Stoff überspannen.
Wir sehen in unseren Projekten auch eine enorme Chance, dass künstlerische Arbeit über ihren normalen Kreis hinausgeht, ein Kreis, der extrem klein und einfach ist. All unsere Arbeiten wirken, bevor sie existieren. Über unsere Skulpturen wird gestritten, bevor es sie gibt. Wir sind jetzt hoffentlich kurz davor, die Genehmigung für „Over The River" zu bekommen. Es gibt so viele Argumente dafür und dagegen. Es ist schwierig, aber auch befriedigend, dass ein Kunstwerk, das gar nicht existiert, so viel anregt. Alle denken über diesen Fluss nach.

Sie kommen jetzt zum ersten Mal ohne Ihre Frau nach Berlin. Wie fühlt es sich an, Ihr letztes gemeinsam umgesetztes Werk alleine zu präsentieren?
Wir sind glücklich, dass das Buch existiert, sie wäre sehr glücklich. Sie war eine sehr realistische Frau, eine so starke Dame. Niemand kann sie ersetzen.

Sie haben sich gegenseitig versprochen, die gemeinsame Arbeit weiterzuführen, sollte einer von Ihnen sterben. Da müssen Sie Jeanne-Claude doch irgendwie ersetzen.
Man kann sie auf keine Weise ersetzen! Ich muss meine Arbeitsweise umstellen. Und ich habe ihre drei Assistenten geerbt, die sie ausgebildet hat. Die wissen alles und helfen mir. Wir setzen unsere Projekte ja nicht allein um. Ich und Jeanne-Claude stoßen die Projekte an, aber wir können sie nicht alleine realisieren. Wir sind gesegnet mit unserem großartigen Team. Es gibt etwa eine Schar von Anwälten und weiteren Leuten, die das Team für „Over The River“ bilden. Das haben Jeanne-Claude und ich natürlich aufgebaut, diese Energie von Menschen, die zusammenarbeiten und versuchen etwas umzusetzen.

Sie sprechen, als wäre Jeanne-Claude noch am Leben. Hilft die Arbeit auch, über den Abschied hinweg zu kommen?
Natürlich ist Jeanne-Claude noch da, ihre Papiere, ihre Materialien, ihre Entscheidungen.

Entwickeln Sie nun alleine neue Ideen?
Wir arbeiten immer an vielen Projekten. Wenn wir die Genehmigung für ein Projekt bekommen, können wir nicht los und die Genehmigung für ein anderes holen. Wir müssen all unsere Energie und unser Geld darauf konzentrieren, dieses Projekt zu realisieren. 2001, als wir viel an „Over The River“ arbeiteten, wurde ein Freund von uns zum Bürgermeister von New York gewählt, Michael R. Bloomberg. Da verwendeten wir alle Ressourcen auf die Genehmigung für das „The Gates“-Projekt im Central Park, das 2005 realisiert wurde. Erst im Dezember 2005 begannen wir, an den Genehmigungen für „Over The River“ zu arbeiten. Nur als Beispiel dafür, wie ein Projekt 18 Jahre brauchen kann, um zu diesem Stand zu kommen. Genauso ist es mit Abu Dhabi, das wir 1979 begannen. Gerade können wir nicht einen Moment darauf verwenden.

Für „Mustada“ wollen Sie in der Wüste 410.000 Ölfässer zu einem trapezförmigen Berg von 150 Metern Höhe stapeln. Gibt es noch weitere unverwirklichte Ideen?
Jedes Projekt ist anders. Wir werden nie wieder ein verhülltes Parlament machen, wir werden nie wieder Tore machen, wir werden nie wieder eine umhüllte Insel machen, wie werden nie wieder Schirme machen. Es wäre sehr langweilig, das gleiche noch einmal zu tun oder die Arbeiten von einem Ort zum anderen zu transportieren. Jedes Projekt war ein einzigartiges Bild. Deshalb ist es auch so schwierig, Genehmigungen zu bekommen. Politiker und Bürokraten öffnen ihre Bücher und finden Anleitungen, wie man eine Brücke baut oder ein Hochhaus. Aber es gibt keine Bücher dafür, wie man „Over The River“ baut.

Wann wird „Over The River“ fertig sein?
Sollten wir 2011 die Genehmigung für „Over The River“ bekommen, werden wir mindestens zwei Jahre für die Umsetzung brauchen, so ist es bei all unseren Projekten. Wir wollen es im August aufzubauen, damit Floße darunter hindurch fahren können, deshalb wird es nicht vor 2013 realisiert sein.

Das klingt alles unglaublich mühsam.
Das ist es. Wir haben schon sieben Millionen Dollar für „Over The River“ ausgegeben und haben noch immer keine Genehmigung.

Denken Sie manchmal über das Aufhören nach?
Es gibt ein wunderbares Filminterview, in dem ein Journalist Jeanne-Claude fragt: Wann werden Sie aufhören? Jeanne-Claude sagt: Künstler hören nicht auf. Sie sterben.

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