Jedes Bild muss eine Erschütterung bergen

Schonungslos bohrte er in der deutschen Geschichte, war Chronist Berlins und entwickelte eine ganz eigenen Form der fotografischen Sachlichkeit. Zum Tod des großen Berliner Fotokünstlers Michael Schmidt.

Der Tagesspiegel, 26. Mai 2014

Es gilt noch aufzuarbeiten, was Michael Schmidt für die künstlerische Fotografie in Deutschland geleistet hat. Nicht nur mit seiner singulären Bildsprache und seinen schonungslosen Vivisektionen des deutschen Bildgedächtnisses; auch in seinem Engagement für andere. Als die Fotografie noch um ihre Anerkennung als Kunstgattung rang, gründete der Autodidakt 1976 an der Kreuzberger Volkshochschule die Werkstatt für Photographie und betrieb dort umfassende Diskurs- und Szenenbildung – mit Ausstellungen US-amerikanischer Klassiker wie Walker Evans oder Paul Strand und Seminaren internationaler Kollegen wie William Eggleston und John Gossage.

Damit hatte Michael Schmidt entscheidenden Anteil an der Etablierung der Fotografie auf der Landkarte der Gegenwartskunst – neben der Düsseldorfer Schule von Bernd und Hilla Becher, die bis heute den deutschen Fotografiediskurs prägt. Ihrer Sachlichkeit stellt Schmidts Werk eine eigene, existenziellere Form der Sachlichkeit entgegen. Zunehmend berufen sich jüngere Kollegen – auch Becher-Schüler – auf ihn. Lange wurde der 1945 in Berlin geborene Schmidt in Expertenkreisen verehrt, seine grauen Bilder des geteilten Berlins haben Kultstatus. Doch während das New Yorker Museum of Modern Art schon 1988 die Serie „Waffenruhe“ ankaufte, erfuhr er in Deutschland erst in den letzten Jahren angemessene institutionelle Würdigung – eingeläutet durch die Retrospektive im Münchner Haus der Kunst 2010, in der sich die ganze Wucht dieses Jahrhundertwerks entfaltete.

Die Serie „Waffenruhe“ von 1988: Kreuzberger Brachen, Punks und Mauerteile, nah ans Objektiv gerückt, jedes Bild ein Faustschlag. „Ein-heit“ von 1991: Zeitungsfotos von SS-Aufmärschen oder von Ludwig Erhard, Gardinen, Durchschnittsgesichter der Wendezeit, der eigene Personalausweis: eine schonungslose Tiefenbohrung in deutscher Geschichte, die den Zeugnischarakter der Fotografie überschreitet. „Frauen“ (2000): Ausschnitte weiblicher Gesichter und Körper, kühl fotografiert wie Objekte.

„Jedes Bild muss eine Erschütterung in sich bergen“, erklärte Schmidt einmal, bei einem Besuch in seinem Häuschen am Elbdeich bei Dannenberg. Das gelang ihm, indem er der Fotografie alle Illusion austrieb. Seine Bilder sind frei von poetischer Aufladung, frei von Theatralität, frei auch von auferlegten Konzepten. Sie bieten keine Projektionsflächen, sondern verlangen dem Betrachter die gleiche Rechenschaft als blickender Körper ab wie sie auch der Fotograf ablegte. So brach Schmidt auch mit der beharrlichsten Illusion der Fotografie, der Objektivität. Seine Bilder stellen sich nicht vor oder neben die Welt, sondern zeigen sich als Teile eines situativen Austauschs zwischen Körpern, vermittelt durch die Kamera. Die Art, wie er diese Bilder in Büchern und Ausstellungen anordnete, in Brüchen, Schnitten und Wiederholungen, legte auch die Ordnungssysteme offen, in denen Bilder operieren. Schmidts Werk ist damit nüchtern im allerbesten Sinne. In seltener Weise verknüpft seine Version des Realismus existenzielle Subjektivität mit großer konzeptueller Diskretion.

So schonungslos, wie er sich seinen Sujets stellte, war Schmidt auch gegen sich selbst. Ein Selbstverschwender, ein rastloser Problemlöser, Ratgeber für jüngere Künstler und ein großzügiger, einfühlsamer Freund. Nach Ausstellungen im Schloss Morsbroich in Leverkusen und im Berliner Martin-Gropius-Bau war seine jüngste Serie „Lebensmittel“ letztes Jahr auf der Venedig-Biennale zu sehen. Erstmals schlich sich darin Farbe in sein Werk. Fünf Jahre lang hatte er mit seiner Assistentin Laura Bielau Brotfabriken, Apfelplantagen und Schlachthäuser besucht und den nahrungsindustriellen Komplex ins Bild gebracht – in drastischen Motiven, die sich jeder Wertung verweigerten und stattdessen die Zurichtungen der Natur auf sich selbst anwandten. Die Serie war Teil des Nachdenkens über einen neuen pragmatischen Humanismus, von dem er in letzter Zeit oft sprach.

Erst vergangene Woche wurde Schmidt für die Serie im Londoner Victoria & Albert Museum von Kofi Annan der Prix Pictet verliehen – in seiner Abwesenheit. Noch im Krankenbett hatte er in den letzten Monaten mit Hochdruck an zwei Fotobüchern gearbeitet, die im Lauf des Jahres erscheinen werden. In der Nacht auf Samstag ist Michael Schmidt mit 68 Jahren in Berlin gestorben.

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