Im Rhythmus der Sirenen

Feiern im Ausnahmezustand: In Israels Nachtleben spiegelt sich eine Gesellschaft zwischen Adrenalin und Kontrollwahn. Ein Trip durch Jerusalem und Tel Aviv

Der Tagesspiegel, 14. November 2010

Bamm. Verdammt, da steht eine Scheibe. Mitten in Tel Avivs Technoclub Haoman 17 haben sie eine Trennwand gestellt. Mich lockte das Licht am Ende der Treppe: ein dritter Dancefloor? Eine versteckte Lounge? Der Durchgang zu den Darkrooms? Nun blicke ich auf den geplatzten Plastikbecher in meiner Hand, fühle den Wodka Red Bull auf meiner Hose. Dieses Land ist wirklich voller Grenzen.

Das israelische Nachtleben ist berüchtigt, alle finden das ganz spannend: Tanzen zur Raketenwarnung. Als gäbe es da einen Widerspruch! Eine gute Nacht bedeutet doch immer Ausnahmezustand. Mit den Partys ist es letztlich wie mit allem hier, den Kirchen, der Sonne, den ethnischen Konflikten: Man findet, was es auch zu Hause gibt, nur in potenzierter Dosis.

Jerusalem betet, Tel Aviv feiert: So die übliche Erzählung. Dabei drängen sich in Jerusalem zum Ende des Sabbat tausende schwer angesäuselte Jugendliche in der Fußgängerzone Ben Yehuda Street, darunter betrunkene amerikanische Collegekids mit Kippas, die gerade von organisierten Besuchen in Siedlungen im Westjordanland zurück sind.

Der Technoclub Haoman wurde hier gegründet, bevor er seinen bekannteren Ableger in Tel Aviv eröffnete. Ein Künstler erinnert sich an einen Gig des House-Künstlers Richie Hawtin während der Zweiten Intifada: Am Tag waren zwei Soldaten in einer Polizeistation in Ramallah gelyncht worden, nun zogen die Armeehubschrauber über die Freilufttanzfläche, wo dreihundert Unbeirrbare auf Acid tanzten.

Jerusalem gehört keinesfalls allein den Religiösen. In der Innenstadt treffen sich alternative und kreative Szene in netten Tanzbars wie dem Uganda, dem Kassette und seit diesem Sommer im Sira. In Jerusalem passiert es allerdings auch schnell, dass die Nacht statt im Club in einem Burgerrestaurant endet, beim Diskutieren mit patriotischen Soldaten. Irgendwie müssen sie sich hier ständig erklären, auch wenn man gar nichts Kritisches gesagt hat. „Nimm die Gaza-Operation“, sagt einer. „Kennst du eine andere Armee auf der Welt, die vor einem Angriff Warnungen abwirft und die Ziele verrät, damit sich ihre Feinde noch rechtzeitig in Sicherheit bringen können?“ Was soll man sagen. Sie klagen: Europa tut zu wenig gegen muslimische Zuwanderung, mit Kippa kann man sich dort kaum noch frei bewegen, in zwanzig Jahren wird Frankreich islamische Republik sein. Ich höre brav zu, blicke betreten auf meinen halb gegessenen Burger und schlafe langsam ein.

Doch, Jerusalem bietet genug Stoff für eine und noch eine Nacht. Am Sabbat allerdings locken zwar ein paar Clubs ins Industrieviertel Talpiot, das Stadtinnere aber ist wie leer gefegt. Wer ernsthaft feiern will, fährt nach Tel Aviv.

Darum verlasse ich gegen Abend die Stadt, Richtung Mittelmeer, während gerade die Sirenen zum Gebet an die Klagemauer rufen. Die letzten Busse und Züge sind schon gefahren, aber das Sherut, das Sammeltaxi, ist eh die spannendste Art, in Israel zu reisen, und die schnellste, behandelt der Fahrer doch alle Verkehrsteilnehmer wie Slalomhindernisse, die er mal links, mal rechts überholt.

Um den Abend in Tel Aviv zu beginnen, empfiehlt sich das Minzar, eine gut gefüllte Kneipe am Carmel-Markt mit ausgefallener Speisekarte. Seit diesem Sommer ist der Sammelplatz Nummer eins aber das Internetradio Teder.fm, das live von wechselnden Orten sendet, zurzeit bespielt es einen Barraum in der Allenby Street, direkt gegenüber der Großen Synagoge. Hier trifft man auch garantiert Leute aus Berlin.

Die hängen auch drei Ecken weiter im Riff Raff ab, einer Bar, die so auch in Kreuzberg stehen könnte. Kunststudenten mit engen Jeans und großen Brillen erzählen von neuen Projekten, während sich Schülerinnen in Ringelkleidern zu aus billigen Boxen scheppernden All Time Favourites wiegen. Über den Sofas im hinteren Teil erinnern Schwarz-Weiß-Fotos an den legendären Tel Aviver New-Wave-Club Koloa, wo in den Achtzigern Siouxsie & The Banshees und Tuxedomoon spielten.

Das sagen hier alle: Die großen Zeiten des israelischen Nachtlebens sind vorbei. Ein DJ, der damals sehr viel Geld mit Partys verdient hat, fährt jetzt für einen Lieferservice Motorroller.

Im Nachtleben spiegelt sich auch die wachsende Spaltung der israelischen Gesellschaft: Die Orte mit übergreifender Integrationskraft sind Vergangenheit. Die interessantesten Partys finden heute mit Facebook-Einladung in Privaträumen statt. Und die Clubs kämpfen wie in Berlin gegen Lärmklagen und Bauprojekte. Erst kürzlich mussten zwei Läden schließen. Am liebsten würde die Stadtverwaltung das Nachtleben wohl ins durchdesignte Hafenviertel abschieben.

Die Droge dieser Tage heißt Chagigat, ein Koksersatz, er wird unter den Ladentheken der Spätkiosks verkauft. Chagigat gibt es angeblich nur in Tel Aviv, wie der Cannabis-Ersatz Mabsotun ist es eine Antwort auf die gut verriegelten Grenzen, die die Zufuhr aus dem Ausland erschwert haben. Chagigat ist eine intelligente Droge. Weil die Polizei keine verbotenen Substanzen finden konnte, wurde gegen die Inhaltsstoffe schnell ein neues Gesetz erlassen. Schon eine Woche später war Chagigat wieder auf dem Markt, mit veränderter Rezeptur, aber gleicher Wirkung.

Ich schrecke auf. Ein Papiergeschoss traf mich am Kopf. Ich war eingenickt, auf einem Stuhl zwischen zwei Bars in Neve Tzedek, Tel Avivs ältestem Stadtteil, wo die Wände rissig sind, die Mieten günstig und die Bars voller Studenten. Von einem Tisch grinst mich eine Gruppe an, darunter eine verboten hübsche Soldatin und eine Kampfmaschine, die entspannt im Stuhl hängt, abschätziges Grinsen, die Freundin auf dem Oberschenkel.

Morgen Nachmittag gebe es eine Party irgendwo außerhalb, psychedelischer Elektro, viele Drogen, die Adresse wird kurz vorher auf Facebook verraten. Illegale Raves dienen den jungen Ordnungshütern am Wochenende zum Druckausgleich. Regelbruch und Pflichterfüllung gehen da ineinander.

Die Kampfmaschine schwärmt vom letzten Urlaub: Amsterdam! Dort will er leben, wenn der Armeedienst vorbei ist. Er war auf dem Schiff, das die Gaza-Hilfsflotte stoppte, erklären seine Freunde ungefragt. Echt? Der Held schweigt vielsagend und macht sich bereit zum Gehen, vier Uhr morgens, auch er ist müde. Ich sehe seine Muskeln, ich sehe das wahnsinnige Blitzen in seinen Augen, das versonnene Grinsen der Freundin. Soldaten müssen verdammt guten Sex haben. „Ja“, sagt der Soldat, „haben sie“, und verschwindet mit seinem Mädchen auf dem Rücken in der Dunkelheit.

Das Haoman 17 ist ein bisschen wie das Berliner Berghain in klein: gute Anlage, international gerühmte DJs, Bodybuilder in Badehosen – und schon lange kein Geheimtipp mehr.

Aber das Berghain hat keinen siebenteiligen, einzeln senk- und hebbaren Kronleuchter. Und im Berghain ist die Stimmung verstockter. Einen halben Meter über den Tanzenden schweben die aufgebauschten Haarteile zweier Dragqueens, die mit stoischen Blicken wie Eisbrecher durch die Menge manövrieren und bereitwillig für Fotos posieren. Der DJ spielt Elektrohouse mit „Everybody-groove-to-the-music“-Disco-Einsprengseln. Immer wieder drückt er einen Knopf, dann ertönt das Dröhnen eines Schiffshorns und erinnert an die Sabbat-Sirenen in Jerusalem.

Gegen sieben Uhr leert sich die Tanzfläche. Auf der Bühne tanzt lässig noch eine dicke grauhaarige Tunte. Zurück bleiben die Trümmer der Nacht: leere Flaschen, zertretene Plastikbecher und viele quadratische weiße Papierschnipsel vom Konfettiregen. Es mag am Wodka Red Bull liegen oder an was auch immer, aber auf einmal muss ich an die Flugblätter im Gaza-Streifen denken.

„I believe“, spielt der DJ immer wieder, „I believe“, bevor er schließlich den Bass abstellt und mit hochgereckten Armen den Applaus des übrig gebliebenen Publikums entgegennimmt. Ich renne zum Pult, bedanke mich überschwänglich und sage, bitte, bitte: Welcher Knopf macht die Sirene? Bööööööööh. Danke!

Draußen wärmt schon die Morgensonne. Ich hole mir frisch gepressten Granatapfelsaft und einen Bagel in der Familienbäckerei von Abu Elafia im arabischen Jaffa, spaziere den Strand entlang, schwimme einmal raus zu den Wellenbrechern und zurück, lasse mich zum Frühstück in einer Strandbar nieder, schweife über die politischen Kommentare in der zerknitterten „Jerusalem Post“ vom Vortag und spüre, wie die Schwere des Schlafes allmählich alle Muskeln entspannt. Israel! Was für ein großzügiges, panisches, zum Heulen schönes, was für ein herrlich durchgeknalltes Land.

adkv - art cologne preis
für kunstkritik 2012

Will-Grohmann-Preis
der Akademie der Künste 2018