Handwerk der Freiheit

Künstler, Kurator, Designer, Ringer – Tilo Schulz geriet aus jeder eingeschlagenen Bahn. Aber immer mit Plan

Der Tagesspiegel, 20. August 2010

Je brüchiger die Lebensläufe werden, desto öfter hört man dieses Wort: Eigentlich. Ich arbeite als Designer, aber eigentlich bin ich Künstler. Ich arbeite für eine Unternehmensberatung, aber eigentlich bin ich Philosophin. Dabei verliert das Wort in einer Gesellschaft der Umsteiger allmählich seinen Sinn. Wie sich gut darauf verzichten lässt, zeigt das Beispiel Tilo Schulz.

Eigentlich ist er kein Umsteiger. Zumindest nicht in dem Sinn, dass eine Tätigkeit endet und eine neue beginnt. Man könnte Tilo Schulz einen Dauerumsteiger nennen. Einen, der immer wieder aufnimmt, was er einmal liegen ließ. Also. Tilo Schulz, geboren 1972, ist Künstler. Er ist Kunstvermittler. Kurator. Designer. Innenausstatter. Und er hat ein Kunstmagazin herausgegeben. Eigentlich aber war Tilo Schulz mal Ringer.

Als Siebtklässler trainierte er in Leipzig eine Jugendmannschaft im Kraftsport. Gar nicht so verschieden zum Kuratieren einer Gruppenausstellung, meint Schulz: „Du musst für jeden die optimale Position finden, dabei aber immer das Ganze denken.“ Vor ein paar Monaten unterstrich er diesen Anspruch mit „Squatting“, der gemeinsam mit Jörg van den Berg konzipierten Ausstellung in der Temporären Kunsthalle, die mit der Vorstellung linearer Erinnerung brach. Immer wieder schickte sie den Besucher hinaus in den Stadtraum, der um die Kunsthalle herumlief, um an einem anderen Eingang wieder hineinzukommen. Ganz ähnlich verlief Schulz’ eigene Laufbahn.

Er empfängt den Besuch in seiner Wohnung in Prenzlauer Berg, stilsicher im Unterhemd über Turnerschultern. Ein Atelier hat er zur Zeit nicht. Den Sechziger-Jahre-Grundriss der Wohnung hat Schulz durch einen Wanddurchbruch aufgelockert, der Estrich ist rot geölt, vom Balkon scheint die Nachmittagssonne auf die Obstschale. Auf dem Plattenregal steht eine Installation der Künstlerin Delaine Le Bas, auf dem Couchtisch entdeckt man Vasen von Ursula Fesca aus den fünfziger Jahren, wie Schulz sie auch in seinen Einzelausstellungen in Leipzig und Wien zeigte. Zusammen mit minimalistischen Skulpturen, seinen Intarsienarbeiten und einem Vorhang aus 64 000 Holzkugeln, die einmal im Kreis den Schriftzug „COLD WAR“ bildeten.

Tilo Schulz stellt nämlich nie nur Tilo Schulz aus. Nennt man besonders ambitionierte Ausstellungsmacher heute „Künstlerkuratoren“, bietet sich für Tilo Schulz der Begriff „Kurator-Künstler“ an. Statt sich ins Warenregal selbstgenügsamer Positionen einzureihen, sortiert er darin herum. Die Produktion eigener Arbeiten ist für ihn nur ein Mittel unter anderen, um neue Blicke auf die Kunstgeschichte zu eröffnen.

Nach der Schule ließ sich Schulz zum Instandhaltungsmechaniker beim Braunkohleabbau ausbilden. Später war er Orchesterwart an der Oper. Mit 17 erlebte er die Wende und eine Zeit schwer fassbarer Umbrüche, persönliche wie politische: „Künstler zu werden, war da für mich eine Möglichkeit, eine eigene Sprache zu finden.“ Er begann mit Arbeiten im öffentlichen Raum, Kreidelinien wie vom Fußballplatz, die sich als formalistische Malerei in die städtische Realität einschrieben. Und bekam dafür 1993 den Preis des deutschen Künstlerbundes. 30 000 Mark, auf einmal. Schulz war 21. Die Laudatorin verbarg ihre Skepsis nicht, so viel Geld kann einen jungen Künstler leicht aus der Bahn werfen. Und Tilo Schulz geriet tatsächlich aus jeder einmal eingeschlagenen Bahn. Aber immer mit Plan.

30 000 Mark. „Plötzlich hatte ich Möglichkeiten, die ich vorher nie hatte.“ Nun musste er die Schultafeln für seine abstrakten Kreidebilder nicht mehr selber bauen. Schulz brauchte kein Bafög mehr, er brach das begonnene Abitur ab und widmete sich ganz der Kunst. Bis heute beschäftigt er sich mit dem großen Grabenkampf der Kunstgeschichte im 20. Jahrhundert, der in den Fünfzigern im „Formalismusstreit“ zum Höhepunkt fand: Formalismus versus Realismus, Abstraktion versus Gegenständlichkeit. Der Osten sah die Kunst der Politik verpflichtet, der Westen verteidigte die Freiheit der Form – und verlegte damit seinerseits die Politik ins Symbolische. Schulz mag reduzierte Formen im Design. Und kann sich zugleich der Vorstellung nicht entziehen, dass Kunst gesellschaftlich wirksam sein soll. Also nennt er seine Arbeit: Sozialer Formalismus.

Seine Arbeiten hintergehen jene Hierarchien von „abstrakter“ und „politischer“ Kunst, von „freier“ und „angewandter“, von „männlicher“ und „weiblicher“ Kunst. Und sie legen offen, wie jedes Kunstwerk und jede Kunstausstellung in historischen, gesellschaftlichen und politischen Zusammenhängen stehen, die sie bedingen. „Es gibt keine ideologiefreie Ästhetik“, betont der Künstler, und findet es „grauenvoll zu sehen, dass es diese naive Vorstellung heute noch gibt.“

Dass Formen immer mit Macht zu tun haben, wird in Tilo Schulz’ Rückgriffen auf die 3000 Jahre alte Intarsienkunst anschaulich. Ihren Gipfel erreichte sie in der Renaissance, als sich die italienischen Fürsten in illusionistischen Wandvertäfelungen ihrer Macht versichern ließen. Schulz entwirft seit 2004 Tafeln und begehbare Installationen aus edlem Mahagoni, die jene Tradition mit abstrakter Malerei und modernem Möbeldesign zusammenbringen. Die Ausführung überlässt er einer Leipziger Werkstatt: „Ich habe zu viel Respekt vor dem Handwerk, um das selbst zu machen.“

Schulz' Objekte sind perfekt gearbeitet. Sinnlich ansprechend. Schön. Doch werfen sie in der Zusammenstellung den Betrachter fortwährend aus der Kontemplation und sabotieren den staunenden Blick vor dem geheimnisvollen Stück. Wer als Künstler um ein Zentrum kreist und seinen Stil immer weiter fortschreibt, der wird schwerlich das Gegebene überwinden. Schulz war bald klar, dass auch die Arbeitsweise selbst eine Formfrage ist. So fand er Mitte der neunziger Jahre: „Ich muss nicht alle Ideen neu produzieren. Vieles gibt es schon.“ Und er begann, das Ausstellen selbst zur Kunst zu machen. Das Wort „Kunstvermittler“ war damals noch neu. Zwischen 1997 und 2001 tourte er mit einer „Exhibition without exhibition“ durch Europa. Olaf Nicolai gestaltete einen Katalog, Sandra Hastenteufel hielt Vorträge. Die Vorstellungen fanden mal im Museen statt, mal vor fünfzehn Gästen in der Wohnung des Künstlers Simon Starling.

Als Designer gestaltete Tilo Schulz Kataloge. Inzwischen macht er nur noch seine eigenen. Aus der von ihm gegründeten Zeitschrift „spector“ zog er sich zurück. Alle ein, zwei Jahre nimmt er einen Auftrag als Innenausstatter an, wie zuletzt für das Besucherzentrum des Kunstzentrums Halle 14 in der Leipziger Baumwollspinnerei. Im Schalke-Stadion baute Schulz eine VIP-Lounge für ein Malerunternehmen, mit USB-Platten, vergitterten Lampen und Plastikfenstern. Zu essen gibt es Bratwurst. Die dinierenden Malermeister waren begeistert.

Bis heute legt Schulz gerne selbst Hand an, so wie in der Temporären Kunsthalle. Er rückte zurecht, was Handwerker falsch angebracht hatten, schichtete mit Jörg van den Berg die neun Tonnen Rigipsplatten der Künstlerin Franka Hörnschemeyer auf und kochte am Tag vor der Eröffnung Chili für alle.

„Squatting“, die Ausstellung, die Bewegungen um ein leeres Zentrum provozierte und nie als Ganzes erfahrbar war (übrigens eine Reminiszenz an die verschlungenen Pfade in Sanssouci), steht beispielhaft für die Wege des Künstlers. „In den letzten Jahren habe ich ein viel offeneres Verhältnis dazu entwickelt, wie ich meine künstlerische Arbeit ins Kuratorische einbringe und umgekehrt.“ An die Stelle der Suche nach definierenden Rollen und Identitäten trat das Interesse für Brüche, Leerstellen, Fehler. Schulz beschreibt seinen Werdegang als jahrelanges Kreisen um wiederkehrende Fragestellungen, „wie in der Psychoanalyse“. So verbinden sich privates, künstlerisches und politisches Programm: im Weg heraus aus der Konfrontation fester Formen.

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