Fürchtet Euch

Nicolaus Schafhausen ist neuer Direktor der Kunsthalle Wien. Sein "Salon der Angst" legt die Gegenwart auf die Couch

Die Welt, 02. Dezember 2013

Was hat diese Zeit nur mit den Eremiten? Neulich bezauberte die Online-Ausgabe der "FAZ" mit einer Bildstrecke des Fotografen Ilja Najmuschin, der einen Einsiedler in den Wäldern Sibiriens porträtiert hat. In Frauke Finsterwalders Film "Finsterworld" gerät ein Eremit zur Parodie auf den selbstgerechten und am Ende gefährlichen deutschen Eigenbrötler. Und in der Ausstellung "Salon der Angst" in der Wiener Kunsthalle zeigt die Künstlerin Ieva Epnere in einer altarhaften Anordnung Videos aus dem gleichförmigen Alltag einer zurückgezogen lebenden älteren Dame in Lettland. Ach! Die Hühner, die Stille, die Einsamkeit, die Weite, die Leere der Zeit.

Immer mehr Leute steigen aus. Aber noch mehr schauen ihnen dabei zu. Weil man sich mit ihnen im Geiste solidarisieren kann gegen die Unmenschlichkeit und Beschleunigung, deren Teil man ist? Oder weil sie zeigen, dass man auch in Würde arm sein kann? Oder sehnen wir uns alle heimlich nach dem "Rückzug von der Gesellschaft und den mit ihr verbundenen Modernisierungsängsten", wie es über die lettische Eremitin im Wiener Ausstellungsführer heißt?

Moment. Modernisierungsängste, was ist das?

Angst ist ein diffuses Gefühl, das sich rührt, wenn sich die Umwelt dem Zugriff entzieht. Entsprechend diffus ist das Sprechen über sie. Der "War on Terror", dieser grandiose Titel für das bislang folgenreichste Narrativ dieses Jahrhunderts, lässt sich ja auch als Krieg gegen die Angst übersetzen. Wobei er sich paradoxerweise eher als Feldzug für die Verbreitung von Angst erwiesen hat, die, da kann man den Wiener Kuratoren zustimmen, zur Grundverfassung der Gegenwart gehört.

Das Gegenteil von Angst stellt der Adler dar, das Wappentier der USA wie Deutschlands, Polens oder Österreichs: Übersicht und Zugriff. Adler bilden den Kern der neuen Markenidentität der Kunsthalle Wien, die ihr neuer Direktor Nicolaus Schafhausen beim belgischen Grafiker Boy Vereecken in Auftrag gab. In immer anderer Gestalt, mal poppig, mal Furcht einflößend, laden sie den Wiener Stadtraum mit einer latenten Atmosphäre von Aufruhr auf.

Das kommunale Haus unternimmt damit nicht nur Anleihen bei Propaganda-Ästhetik, wie es schon die Berliner Volksbühne vormachte, sondern setzt ein ambivalentes Spiel mit Staatssymbolik in Gang. Wird in der Wiener Kunsthalle gerade die Macht einer öffentlichen Kulturinstitution erprobt? Ihrem neuen Direktor kann man Ängstlichkeit jedenfalls nicht vorwerfen. Vor einem Jahr folgte Nicolaus Schafhausen auf den verdienten, aber umstrittenen und halb ehrenhaft entlassenen Kunsthallendirektor Gerald Matt. Schafhausen hatte zuvor den Deutschen Pavillon der Venedig-Biennale und das Rotterdamer Museum Witte de With geleitet. In Wien lüftete er mit einer Renovierung das Haus ein bisschen durch und zog markig neue Fahnen auf. "Jeder Adler könnte ein Kunsthallen-Adler sein", erklärt er. Das kann man umgekehrt auch so verstehen: Was gern dem Staat überlassen wird, gehört in entschlossene Bürgerhand.

Als erste Setzung lud er unter dem gewichtigen Titel "What Would Thomas Bernhard Do?" zu einer Reihe von Vorträgen, Performances, Diskussionen und Partys. Ausgerechnet über diese beladene Lokalfigur schien der Deutsche dem Wiener noch was beibringen zu wollen, der ja naturgemäß schwer zufriedenzustellen ist. Schon rollt man hier auf den Namen Schafhausen mit den Augen.

"Thomas Bernhard war eher eine Metapher", erklärt der. In erster Linie ging es wohl überhaupt um die Versammlung hinter gemeinsamen Fragen. Die Galerie als zivilgesellschaftlicher Debattierraum: Das ist in kleineren Häusern, Kunstvereinen und auf Biennalen inzwischen normal, in großen Institutionen aber noch nicht so richtig angekommen – gerade in Wien, wo Schafhausen eine "thesenfreie Zone" sieht. "Die Stadt hat noch kaum begriffen, wie sie sich durch den Zuzug verändert hat." Rund zwanzigtausend Einwohner kommen im Jahr hinzu, die meisten aus dem Osten, darunter auch viele Juden. Mit einem stärkeren Diskursprogramm hofft Schafhausen zur Selbstverständigung der Stadt beizutragen, wobei er durchaus auch klassische Solopräsentationen plant wie von Isa Genzken, die gerade im New Yorker MoMA eine Würdigung erfährt und schon öfter mit Schafhausen arbeitete.

Dieser präsentiert mit "Salon der Angst" nun seine erste große Wiener Ausstellung. Sie entstand mit der Kuratorin Cathérine Hug und erfuhr ein bemerkenswertes Echo. "Salon der Angst" ist ein ziemlich guter Titel für eine Schau, die der Zeit auf den Zahn fühlen will, steckt darin doch auch der Rückzug ins Private oder die eigene Szene.

Mit gedämpftem Licht und einer Flechtentapete von Zin Taylor wird der unschöne Backsteinboden der unteren Halle für eine Stimmung verengten Innenraums nutzbar gemacht, theatral überspitzt durch ein labyrinthisches Kabinett, in dem symbolistische Totenkopf-Zeichnungen James Ensors aus den 1890er-Jahren neben Ergebnissen eines Kunstworkshops mit irakischen Kindern hängen. Durch die vielfältig ausgestattete Halle tönt das müde, schlechte Englisch Peter Wächtlers, dessen Zeichentrickfilm eine zurückgezogen im Keller lebende Ratte vorstellt – auch eine Eremitin. Auch die Aussteigerkommune des Wiener Aktionisten Otto Mühl hat ihren Auftritt: Ein Video Marcel Odenbachs kombiniert deren an Inquisition erinnernde Aktionen mit der Couch Sigmund Freuds.

Mit über 40 Positionen will die Ausstellung sehr viel, es bleibt nur an vielen Stellen unklar, was. Es gibt fantastische Arbeiten, darunter Gerard Byrnes Reenactment eines "Playboy"-Gesprächs von 1963, in dem Science-Fiction-Autoren sich die Gesellschaft am Ende des 20. Jahrhunderts ausmalen. Oder das Video von Kerry Tribe, in dem ein Filmtheoretiker seiner zehnjährigen Tochter philosophische Wahrheiten über Bilder, Identität und Zeit entlockt. Die Ausstellung tritt mit dem Anspruch einer Biennale auf, mit ausufernden Verzweigungen inklusive der neuen Mode, Alte Meister neben Gegenwart zu sortieren: Hier wurden zwei "Ansichten aus den vier Weltteilen mit Szenen von Tieren" des flämischen Barockmalers Ferdinand van Kessel aus dem Kunsthistorischen Museum geholt, als Zeugnisse für das damals erwachende Selbstbild Europas als kulturelle Einheit gegenüber einer zu kontrollierenden Außenwelt.

Auch die Künstlerliste könnte einer Biennale entstammen. Kader Attia hatte letztes Jahr auf der Documenta einen beeindruckenden Raum, der Museen als Teil des kolonialistischen Apparats beleuchtete. Schon seine folgende Schau in den Berliner Kunst-Werken wirkte dagegen zerstreut. In Wien arrangiert er in Archivregalen Zeitschriften der Kolonialzeit, die das Böse im Fremden beschwörten, neben Bücher zu Guantánamo. Man kann hier als Betrachter bedeutsam nicken oder betreten mit den Füßen scharren. Oder über den verkniffenen Ernst der Installation und die ungenauen, folgenlosen Vergleiche, die sie anstellt, den Kopf schütteln und lachen.

Lachen ist nämlich gut gegen die Angst. Lachen erobert Handlungsfähigkeit zurück. Das Lachen aber hat in der Ausstellung wenig Platz. Mit gehobenen Augenbrauen verabreicht sie Medizin oder Drogen, wobei die Diagnose unklar ist und die Packungsbeilage zu einem großen Teil verwirrend.

Willem de Rooij ist ein wichtiger Künstler, aber seine schon 2012 in Berlin gezeigte Klanginstallation mit dem Röhren und Blöken einer ägyptischen Kamelfarm ist nicht witzig, und sie bringt auch nicht, wie behauptet, neue Erkenntnisse über Exotismus. Diese Arbeit bitte nicht mehr ausstellen! Denkt man sich die Schau als Patientin auf der Couch, dann befindet sie sich in der Phase des Probeliegens: Es gibt vage Ideen, aber die Probleme sind noch nicht klar artikuliert. Schafhausens Entgegnung, man habe die Arbeiten ja bewusst mit diffusem Gefühl ausgewählt, befriedigt nicht – lieber hätte man etwas mehr von den Ängsten der Kuratoren mitbekommen. Dazu hätten einzelne Positionen wie die des Kaliforniers Cameron Jamie mehr vermocht, hätte man die Künstlerliste reduziert und ihnen mehr Platz eingeräumt.

Stattdessen verengt die Knallersetzung mit der Angst den Blick, sodass etwa die Vorstadtszenen in den Fotografien Jeff Walls automatisch wie Tatorte wirken. Dabei scheint es der Ausstellung eigentlich um etwas anderes zu gehen: um globale Verwerfungen von Menschen und Dingen, in denen der Einfluss aufs Ganze abhandenkommt. Rainar Ganahl hat dafür eine starke, poetische Form gefunden: Zwischen den Regalen und Kleiderständern eines Ein-Euro-Shops in Harlem ließ er klassische Musiker Bizet und Puccini spielen. Früher war in diesen Räumen ein Theater, jetzt steht auch der Discounter vor der Schließung. Der Kontrast des vor der Tür liegenden Elends mit den Erlösungsversprechen der Kunst schafft eine Stimmung von unausweichlicher Obdachlosigkeit und lädt dennoch ein, vom Vertrauten abzulassen und neu zu handeln.

Das scheint auch der Anspruch der Wiener Kunsthalle zu sein, die etwa zum Nationalfeiertag am 26. Oktober einen "Salon der Hoffnung" in der Österreichischen Präsidentschaftskanzlei einrichtete. Diese Erprobung eines neuen Verhältnisses der Kunst zu staatlicher Macht ließe sich noch weitertreiben; eines Verhältnisses, das die Kunst aus ihrer Eremitenrolle holt und das Gesellschaftliche weniger als Problem denn als Aufgabe begreift. Und den Staat nicht als Gefahr, sondern als Gewähr eines Gemeinwesens, das selbst auf dem Spiel steht. Ein bisschen mehr Angst ist sicher nötig, will man ihre Gründe aus der Welt räumen. Beziehungsweise: mehr Mut zur Angst.

adkv - art cologne preis
für kunstkritik 2012

Will-Grohmann-Preis
der Akademie der Künste 2018