Die Vermessenheit der Welt

Die 11. Istanbul Biennale sagt den Verhältnissen den Kampf an

Der Tagesspiegel, 14. September 2009

Im Westjordanland liefern sich Kinder mit Steinschleudern Scharmützel mit israelischen Soldaten. Beim Nato-Geburtstag in Straßburg holen Demonstranten mit Palästinensertuch die Steine aus dem Pflaster. In Tel Aviv stößt ein Nationalist Flüche gegen Araber aus und stampft einen Totemstab mit Schrumpfkopf auf den Asphalt. In Wien wird Jörg Haider beim Begräbnisgottesdienst Verständnis ausgesprochen. Und auf der Berliner Fanmeile wehen die Flaggen beim EM-Halbfinale Türkei gegen Deutschland.

Die Videoinstallation „Democrazies“ von Artur Zmijewski zeigt Europa, wie man es noch nicht gesehen hat. Auf zwölf Bildschirmen ringen die Massen um nationale Identitäten und indivuelle Rechte. Wie in einem militärischen Control Room öffnet sich ein Panoramablick auf all die Themen, die sich durch die Istanbul Biennale ziehen: auf Armut, Krieg, Fremdenhass und Unterdrückung. In der Mitte erkennt sich der Betrachter als Akteur. Unbeteiligt bleibt hier keiner.

Die elfte Istanbul-Biennale ist eine Sensation. Politisch war die Schau immer schon, die sich vom Rand des Kunstbetriebs in die internationale Aufmerksamkeit gespielt hat. Doch diesmal ist sie radikal. Sie sagt den herrschenden Verhältnissen den Kampf an und wagt die Bestandsaufnahme in einer Welt, in der die drei reichsten Menschen so viel besitzen wie die 600 Millionen ärmsten zusammen. „Nobody Wants to See“ heißt die in ihrem Minimalismus frappierende Arbeit von Mladen Stilinovic, die 600 Millionen Dreien auf weißen Papierbögen abzählt, gestapelt auf Industriepaletten.

Gegenüber liegt auf einem Sockel eine Brotrinde. Das Objet trouvé „Bread“ von Hans-Peter Feldmann empfiehlt sich als Ikone dieser Biennale, die mit Brechts Lied aus der Dreigroschenoper die Brötchenfrage stellt: „Denn wovon lebt der Mensch?“ Die Rinde wird zum Rahmen, der Mangel zum Inhalt. Die Kunst weiß, dass es ästhetische Autonomie nicht gibt, höchstens den Glauben daran, und das nur dort, wo man ihn sich leisten kann. In einer Zeit, in der weltweit über 300 Biennalen um die Aufmerksamkeit eines heiß laufenden Kulturtourismus buhlen, setzt sie auf Politik.

Was wäre dafür ein besserer Ort als Istanbul, die Zwölfmillionen-Metropole auf der Kontinentalfalte, die mit einem Fuß in Europa steht, mit dem anderen im Orient – und dieser Tage knöcheltief im Wasser. Von der Katastrophe bekommt man in der Hafenhalle am Bosporus, einer alten Tabakfabrik und einer verlassenen griechischen Schule nichts mit. Doch die Wassermassen, die vergangene Woche über die Vororte hereinbrachen, erhöhen den Druck auf die Biennale. Ob nun die Erderwärmung, die schlampige Stadtreinigung oder die fahrlässige Baupolitik unter dem einstigen Bürgermeister und jetzigen Regierungschef Erdogan schuld ist – die Fluten erscheinen als Folge rücksichtslosen Wachstums. Zur Katastrophe hat Istanbul gleich das passende Kunstevent.

Kuratiert wurde es von vier Frauen aus Zagreb. Sie nennen sich „What, How & for Whom“ und stellen diese Fragen (Was, wie und für wen) unbeirrt den scheinbaren Alternativlosigkeiten des Neoliberalismus entgegen. Starr verlasen sie auf der Pressekonferenz Manifeste, Zahlen und Statistiken, die in der Weite des Raums verhallten. Das erinnerte an eine sozialistische Regierungserklärung und war so spröde wie charmant. WHW treten im Kollektiv auf. Und ja, sie glauben an die kommunistischen Werte als Grundlage für die beste noch zu findende Regierungsform. Vor allem glauben sie an das kritische Potenzial der Kunst. „Wir arbeiten in Kroatien unter dem Eindruck der Nachkriegs-Atmosphäre“, erklärt eine für alle im Interview, „in einer Gesellschaft voller Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Isolation.“ Vom anderen Ende der europäischen Wohlstandsskala ergeben sich andere Blicke.

WHW stehen Modell: Ob in Jesse Jones düster-mystischer Film-Inszenierung von Brechts Kapitalismus-Oper „Mahagony“ oder den Singspielen, mit denen die Aktivistengruppe „Chto delat / what is to be done?“ in aufklärerischer Absicht die jüngeren Entwicklungen der russischen Gesellschaft nachstellt – Künstlergemeinschaften sind die Hauptdarsteller dieser Biennale. Das Kollektiv als Gegenmodell zur narzisstischen Kunst eines Damien Hirst oder Jeff Koons, deren Erfolgsgeschichte mit dem Aufstieg der Finanzindustrie verknüpft ist.

Zahlen faszinieren allerdings auch hier. Wer hätte gedacht, dass Schautafeln und Statistiken so unterhaltsam sein können. An jedem der drei Ausstellungsorte hängen Diagramme des verstorbenen Hamburger Künstlers KP Brehmer und informieren über Kartoffelpreise und Machtzuwächse von Konzernen. Unverblümt aufklärerisch arbeiten auch das französische Bureau d’Études, das auf einer Schautafel wie aus dem Geografieunterricht die Zusammenhänge zwischen Staaten, Banken und faschistischen Geheimorganisationen visualiert. Überall laden auf dem Boden zusammengeknüllte rote Flugblätter, die über Frauenrechte informieren, zum Fußballspielen ein.

Die wenigen skulpturalen Arbeiten sind nüchtern, wie Marina Naprushkinas Kopie des Rednerpodests, das den Mann Alexander Lukaschenko in den weißrussischen Präsidenten verwandelt. Auf seinen Stufen ruhen sich die Besucher von all der Denkanstrengung aus.

Diese Biennale legt alles offen – inklusive der Herstellungsbedingungen von Kunst, auch die eines Kunstevents. In bester linker Selbstkritik informiert der Katalog über Finanzierung und Geschlechterverhältnis. Feministische Körperkunst kommt neu und gut gelaunt zu ihrem Recht, etwa mit Canan Senol, die Duchamps Pissoir und Bruce Naumans „Selbstporträt als Brunnen“ zwei große, tropfende Brüste entgegenstellt. Ihr Zeichentrickvideo „Exemplary“, zart im Stil osmanischer Miniaturen gezeichnet und liebevoll erzählt wie von Scheherazade, setzt sich mit der heutigen Situation türkischer Frauen auseinander.

Gut die Hälfte der siebzig Künstler ist unter vierzig Jahre alt. 27 kommen aus dem Mittleren Osten, 18 aus Osteuropa. Zum Vergleich: Aus Nordamerika kommen vier. WHW haben sich von den Gesetzen des Kunstmarkts losgesagt. Trotz Didaktik versprüht die Ausstellung Heiterkeit. Statt geschlossene Weltentwürfe zu präsentieren versucht sie zu öffnen, statt auf Überwältigung setzt sie auf spielerische Herausforderung.

Istanbul, geflaggt in Werbung für eine Joseph-Beuys-Ausstellung, ist im Kunstfieber. Die vor fünf Jahren eröffnete Gegenwartsgalerie Istanbul Modern zeigt eine Retrospektive des Konzeptkünstlers Sarkis, das Kulturzentrum Santralistanbul widmet dem seit 40 Jahren im Pariser Exil lebenden Maler Yüksel Arslan eine Überblicksschau. Beide eröffneten symbolträchtig am 12. September, dem Jahrestag des Militärputsches von 1980. Die Stadt bereitet sich auf ihre Rolle als europäische Kulturhauptstadt 2010 vor. Fünf Künstler aus fünf europäischen Städten werden im Rahmen des British-Council-Projekts „My City“ drei Monate lang in der Türkei im öffentlichen Raum arbeiten. Aus Deutschland geht der Filmkünstler Clemens von Wedemeyer nach Mardin, aus der Türkei kommt Caner Arslan in den Neuen Berliner Kunstverein.

Istanbul, das kaum ein Dutzend bedeutender Galerien hat, visiert dennoch den internationalen Kunstbetrieb an. Nach Jahren der Einflussnahme durch den Markt öffnet sich die Biennale wieder politischen Ansprüchen.

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für kunstkritik 2012

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