Avantgarde im Kometennebel

"Take Off" heißt das Berliner Debüt des Andromeda Mega Express Orchestra, das Filmmusik, Free Jazz und Neue Musik weiter bringt. Ein Treffen auf der Kommandobrücke

Der Tagesspiegel, 12. Mai 2009

Das Weltall, unendliche Weiten. Eine fiebrig drängende Geigenmelodie beamt sich aus dem Nichts, kommt aufsteigend näher, tanzt erregte Pirouetten. Ein Posaunenstoß, das Schlagzeug setzt galoppierend ein und das Schiff hebt ab zum Flug ins Ungewisse. Galaxien drehen sich, Kometennebel umspielen den Rumpf. Da – ein euphorisches Streichersignal. Alle Mann auf die Kommandobrücke!

Was für ein Name. Was für ein Aufwand. Die Musik des Andromeda Mega Express Orchestra ist ein motorischer Kraftakt, eine irre Verausgabung an Luft und Fingerarbeit. Und sie erinnert an Zukunftsvisionen aus einer Zeit, als die Zukunft noch aus Blech und Dampf war.

Man denkt an Denny Elfmans fantastische Filmsoundtracks, auch der futuristische Free Jazz des Sun Ra Arkestra lässt grüßen – wären die vielen Stimmen nicht in die Disziplin klassischer Orchestermusik eingespannt. "Take Off!“ heißt das Debüt der vielköpfigen Formation, die es morgen im Festsaal Kreuzberg vorstellen wird. Hier wird gerade erst abgehoben. Von dieser Raumschiffbesatzung ist noch einiges zu erwarten.

Für den schwarzen Propheten Sun Ra war der Weltraum eine Metapher für das gelobte Land. Auch für Daniel Glatzel ist Musik ein Transportmittel, erzählt der Komponist während des Frühstücks beim Italiener im Kreuzberger Bergmannkiez. Wohin fliegt es? "Zu Zuständen wie...“ Er zögert: darf man das Wort verwenden? – "Wahrhaftigkeit.“

Der 25-Jährige gibt den Kapitän. Er schreibt die Stücke, plant die Auftritte, spielt Saxofon und Klarinette, und wenn er eine Hand frei hat, dirigiert er auch. Daniel Glatzel geht vor wie ein Forscher: Allein die richtige Aufstellung zu finden, dauerte Monate. Inzwischen sitzt er in der Mitte eines Halbkreises aus Streichern und Bläsern, hinter ihm die Schlagwerkabteilung. Tatsächlich: eine Kommandobrücke.

Zwanzig Musiker aus den verschiedensten Zusammenhängen, Klassikkünstler und Jazzer bunt gemischt, kaum jemand über dreißig – schon die Terminplanung erweist sich immer wieder als utopisches Vorhaben. Zu Auftritten reist man aus Berlin, Flensburg, Augsburg und der Schweiz an. Fänden sich nicht immer wieder Geldgeber und mutige Veranstalter: Das Projekt würde schon an der Logistik scheitern.

"Musik um der Musik willen hat mich nie interessiert“, sagt Glatzel. "Kunst ist immer eine Reflektion über die ganze Gesellschaft.“ Auftritte, etwa im Kammermusiksaal der Philharmonie, wurden begeistert aufgenommen. Eine Tour mit der Indierock-Band The Notwist, mit der sich das Orchester den Schlagzeuger teilt, erweiterte den Hörerkreis. Im Herbst ging es nach Korea, wo man zwei Wochen in einem rosafarbenen Tourbus mit Plüschsitzen, Discokugel und Karaokeanlage verbrachte. Die Flüge zahlte ein Sponsor, bei den Auftritten halfen Kontakte von Glatzels Mutter, einer koreanischstämmigen Opernsängerin. Die hatte Daniel schon im Kleinkindalter ans Klavier gesetzt. "Das half wenig“, sagt er heute, "ich war zu faul.“ Er hatte schon immer ein Gespür dafür, was die Mühe lohnt und was nicht.

Glatzels Leiterrolle bei Andromeda ergab sich aus der Not. "Man kann nicht alles demokratisch regeln“, sagt er. Dabei spricht er so behutsam, als würde er die Worte irgendwo in der Luft über dem Saftglas ablesen. Man glaubt sofort, dass seine Führung nicht auf Dominanz aufbaut, sondern auf Vertrauen. Manchmal genügt es schon, der Mannschaft die Angst zu nehmen: etwa den klassischen Musikern zu erklären, dass es nicht um die richtigen Noten geht, sondern um das gemeinsame Gefühl. Auch wenn sie der Form nach ein Kammerorchester sind, versteht man sich als Band. Aber erst neulich erfuhr der Komponist, dass ein Geiger Transvestitenshows veranstaltet.

Das Komponieren ist Glatzel inzwischen wichtiger als das Saxofonspiel. Er ist fasziniert von der Synästhetik, die in Filmsoundtracks stecke. "Wenn Bild und Musik ihre Kraft bewahren, entsteht eine dritte Ebene. Das hat Stanley Kubrick immer geschafft.“ Nur in diesem Sinn ist die Musik von Andromeda, die nie zur glatten Opulenz eines Hollywood-Soundtracks gerinnt, Filmmusik: Sie wirft den inneren Projektor an.

Glatzels Einflüsse sind vielfältig. Statt Jazz zu hören, erweitert er seinen Horizont mit Peaches oder Sufjan Stevens. "Ich möchte immer Fremdkörper um mich rum haben, etwas, das ich nicht verstehe.“ Wie Anton Webern, der ihn zu den zerbrechlichen, zitternden Streichersätzen in „Lava Lovers“ inspirierte, die hier allerdings auf einen warmen Chachacha-Rhythmus treffen. Minutenlang kann Glatzel von der amerikanischen Cartoon-Serie "Ren & Stimpy“ schwärmen, von den virtuosen, auch mal absichtlich schlechten Zeichnungen, von gezielter Verwirrung.

Am Ende von "Take Off!“ versammeln sich die Instrumente zu einem kosmischen Raunen und Zwitschern wie von schlaftrunkenen Armaturen, als schwebe das Raumschiff im Traum dahin. Jede Stimme hat einen letzten leisen Auftritt. "An Duke Ellington fand ich immer super, dass man zugleich jeden Musiker einzeln hört und das Kollektiv als Ganzes“, beschreibt Daniel Glatzel sein Ideal.

Mission geglückt. Statt den Hörer zu überwältigen, wird er mitgenommen dorthin, wo die Grenzen der Genres verschwimmen. In der Neuen Musik stecke mehr Freiheit als im Free Jazz, fand Pierre Boulez. Andromeda packt noch die Codes des Pop mit ein. "Wenn wir nur feinfühlig genug rangehen“, sagt Glatzel, „können wir in ungeahnte Gebiete vordringen.“

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