Ach ja, der Dialog

Zwei Städte. Vierzehn Orte. Über hundert Künstler. Neun Kuratoren, in drei Kollektiven organisiert. Und gleich zwei Kontinente als Thema: Die 8. Manifesta in spanischen Murcia hat sich sehr viel vorgenommen

monopol, 29. Oktober 2010

Langsam gleitet die Kamera über das monochrome Grün eines Studioscreens. Ein zweiter Kameramann filmt den ersten, ein dritter den zweiten. Die Szene öffnet sich auf drei Leinwänden wie ein schwebendes Altarbild, asynchron, untermalt von dezenten Echoschlaufen. Mit seiner Zersplitterung von Realitätsproduktion setzt der junge Danilo Correale im alten Bürgerkriegs-Gefängnis San Antón einen raffinierten Nullpunkt für die 8. Manifesta, die sich den soziopolitischen Realitäten am südlichen Rand Europas widmet. In seiner Unterdruckkammer „We are making history“ scheint es gar keine Wirklichkeit mehr zu geben, die es aufzuzeichnen gälte.

Ein dumpfer Schlag stört die Ruhe, gefolgt von einem zweiten. Knarzen und Quietschen dringt über den Hof. Es kommt aus dem alten Gymnastikraum, in dem die Häftlinge schon zu Franco-Zeiten trainierten. Welche enorm gute Audioinstallation hatten wir denn da noch übersehen?

Keine. Das Knarzen besorgen die Dachstreben, an denen ein wildlederner Box-Sack ausschwingt. Und der Schlag kam aus der Familie, die gerade grinsend den Raum verlassen hat. Hier braucht es keinen künstlerischen Eingriff, um Kunst wie Wirklichkeit gleichermaßen ins Wanken zu bringen.

Das macht diesen unangetasteten Gefängnis-Raum zum vielleicht besten Stück der ganzen Manifesta. Dieses alte muffelnde Stück Wirklichkeit setzt die Messlatte für jede Arbeit dieser ambitionierten Riesenausstellung.

Zwei Städte. Vierzehn Orte. Über hundert Künstler. Neun Kuratoren, in drei Kollektiven organisiert. Und gleich zwei Kontinente als Thema: „Dialogue with Northern Africa“ wurde den Kuratoren als Motto ins Auftragsbuch geschrieben.

Murcia, die trockenste Region Europas am südöstlichen Ende Spaniens ist eine gespenstische Gegend, in der die Spuren von Römern, Christen, Muslimen und Francisten noch lange nicht gesichert sind. Im alten Casino der Hafenstadt Cartagena gräbt Stefan Tsivopoulos mit einer Dia- und Filminstallation in der Geschichte der einstigen Bergbauregion. Zur Eröffnung in Murcia protestierten Demonstranten gegen den geplanten Bau eines Parkhauses auf frisch entdeckten arabischen Ruinen.

An der Küste sichert seit der Antike eine Festung die Grenze nach Afrika. Laurent Grasso hat sie in langsamen Landschaftsaufnahmen aus Überwachungsperspektive in Szene gesetzt. Projiziert im Kuppelraum eines früheren Leichenschauhauses, das selbst auf einem Aussichtspunkt steht, gewinnen die Aufnahmen beklemmende atmosphärische Dichte. Es ist die gelungenste Verbindung von Arbeit und Ort und zeigt, was die Manifesta hätte sein können.

Da hat man also so viele spannende lokale Hintergründe. Und so viele Künstler. Und dann kommt so was dabei raus.

Es wird sehr viel geredet auf dieser Manifesta. „Dialog!“, hallt es von allen Wänden, „Kollaboration!“ „Aktion!“ Doch so beim vierten oder fünften Venue rührt sich eine gewisse Ungeduld: Wann geht es denn endlich los? Dass bei der Preview-Feier die Paella lange kalt war, während auf der Bühne noch die Technik für die Konzerte von Kenny Muhammad und Hassan Khan justiert wurde, hatte da eine gewisse Schlüssigkeit.

Die Verabschiedung singulärer Handschriften zugunsten kollektiver, ergebnisoffener Arbeit ließ spannende Lösungen erwarten, weg von der Fixierung auf Thesen und Objekte, hin zu gesellschaftlicher Wirksamkeit. Und hätte sich die Kunst hier zuletzt mit ihren eigenen Mitteln überflüssig gemacht: Das wäre interessant gewesen.

Wooloo machen es vor. Das Kopenhagener Kollektiv hat Künstler eingeladen, mit der Hilfe von Mitgliedern der lokalen Blindenorganisation Arbeiten in völliger Dunkelheit zu entwickeln. Zur Eröffnung tasteten Besucher an Gewürzproben entlang, die Anwohner nach eigenem Geschmack beisteuerten. Einer der wenigen Räume, in denen sich neue Formen der Wahrnehmung und Kommunikation eröffnen und symbolische und soziale Praxis zusammen kommen.

Denn am Ende sollte sich der Erfolg einer Manifesta nicht allein an der künstlerischen Qualität der Beiträge messen lassen; sondern vor allem an den Wirkungen vor Ort. Abed Anouti etwa hat die bislang kaum angetastete Geschichte des Gefängnisses San Antón geöffnet und Historiker und Zeitzeugen befragt. Heraus kam eine schmucklose, leicht verständliche Doku. Reicht doch.

Die meisten aber, die hier vorgeben, von der Welt draußen zu handeln, scheinen entweder zu wenige Ideen zu haben oder zu viele.

Die Kuratoren von Tranzit etwa wollten mit ihren Künstlern zunächst eine Verfassung erarbeiten. Die hatten keine Lust, was der Ausstellung nicht schadete. Das Alexandria Contemporary Arts Forum (ACAF) stellt seinem Ausstellungsbeitrag eine leere Diskurspirouette namens „Theory of Applied Enigmatics“ voran. Und das Chamber of Public Secrets (CPS) klagt allseits über „Massenmedien“; setzt ihnen aber wenig produktives entgegen.

So hat Ralf Homann im Auftrag von CPS für eine lokale Radiostation ein Hörspiel über die Institution der Hochzeit produziert – reine artist's art, mit kulturhistorischen Bezügen von Rosa Luxemburg bis zu den Beatles. Muss das der Kunstlaie jetzt nur aus dem Grund abnicken, dass es Kunst ist? Und wenn das Kollektiv „The Action Mill“ zusammen mit lokalen Initiativen abstrakte Strategiekarten entwickelt – brauchen da die Aktivisten die Künstler oder die Künstler die Aktivisten?

Oder brauchen die Künstler nur die Künstler? Im Lichthof des alten Postamts von Murcia (ein verfallenes Telegraphenamt als Bühne für Diskurskunst: Fast zu gut!) spulen Flachbildschirme Diskussionen verschiedener Kollektive über Kunstbetriebsfragen ab, ohne dass sich erschlösse, wer da mit wem warum was diskutiert. Während die „Art Assembly“ es als demokratisch-revolutionären Beitrag einstuft, Arbeiten anderer Manifesta-Künstler kollektiv zu beurteilen. Ihre Videos gehorchen den gleichen Formen von Lebendigkeitsproduktion, wie man sie aus dem Reality TV kennt und unterlaufen jede Ernsthaftigkeit der verhandelten Themen.

So findet die Festung Europa, die sich in dem Maß nach außen abschließt, wie sie sich nach innen öffnet, ihre Entsprechung in den Independent-Agenten des Kunstbetriebs. Und die gut gemeinten Versuche, die Fetischisierung des Kunstwerks zu überwinden, münden in die Fetischisierung künstlerischer Tätigkeit selbst. Wenn nicht gar bloßer künstlerischer Existenz.

Am Ende bleiben dann doch die Arbeiten hängen, die in Ruhe ihre eigenen Räume öffnen: Filme von Willie Doherty oder Sherif El-Azma. Aber auch der spröde Anders Eiebakke, der selbstgebaute Drohnen von Marokko über die spanische Grenze steuerte.

Ach ja, der Dialog mit Afrika. Tranzit-Kuratorin Dóra Hegyi gibt schulterzuckend zu Protokoll, dass sich dort einfach zu wenig konzeptuelle Qualität fände. Was ja selbst schon eine Vorentscheidung enthält, die zu thematisieren wäre.

Der Dialog mit einer weiteren Szene aber wurde wohl aus anderen Gründen gemieden: Ariel Reichman und Ruti Sela sind die einzigen israelischen Künstler. Warum haben ACAF ihren Israel-Boykott, von dem gemunkelt wird, nicht offen zum Thema gemacht? Dann hätte man wenigstens mal was, worüber es zu reden lohnte.

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für kunstkritik 2012

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